27. Juli 2023 Ciudad Juárez: Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt
Erster Teil
Was liegt zwischen den Mauern, die die Wege in einer Grenzstadt versperren? Die Realität von Tausenden von Menschen, die versuchen, eine Grenze zu überqueren, um Armut, Elend, Gewalt oder Verfolgung zu entkommen. Die Gewalt an der Grenze zwischen Mexiko und den USA ist ein Spiegelbild aller Grenzen und Mauern, die auf der Welt errichtet werden. Die Gewalt, die die Körper der Migrant*innen erfahren, ist ein gemeinsamer Nenner. Im Alltag der Stadt kreuzen sich die Ausbeutung in den Weltmarkenfabriken, die Praktiken der Menschenhandelskartelle und die Lebensgeschichten all derer, die auf der Suche nach einem besseren Leben auf „die andere Seite“ gelangen wollen.
Die Autorin Kathrin Zeiske las aus ihrem Buch “Ciudad Juárez: Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt“ und diskutierte mit dem Münchner Publikum.
Kathrin Zeiske: Ich bin freie Journalistin, lebe schon lange Zeit in Mexiko und auch immer wieder in Deutschland, früher an der Südgrenze Mexikos, heute an der Nordgrenze Mexikos. Genau die Stadt, über die ich geschrieben habe, ist also meine Stadt, in der ich jetzt schon ein paar Jahre lebe und die einen sehr schlechten Ruf hat, sowohl in Mexiko wie auch überall auf der Welt. Ich finde sie dennoch immer wieder liebenswert und lebenswert, wegen der tollen Menschen, die es dort gibt, aber auch eben wegen ganz vielen Aktivist:innen und zivilen Initiativen, die bei allem, was es in Ciudad Juárez auch Furchtbares gibt, immer wieder ganz tolle Projekte auf die Beine stellen und ganz schnell reagieren und dabei sind. Das fand ich gleich sehr anziehend, als ich die Stadt kennengelernt habe, dass es so viele Menschen gibt, die sagen „Wir machen trotzdem was oder gerade deswegen.“
Frage: Wie können wir uns die Grenze zwischen Mexiko und den USA ganz konkret vorstellen? Ist das wirklich eine lückenlose Mauer?
Es ist tatsächlich sehr schwer vorstellbar. Einerseits ist es ja wirklich die militarisierte Grenze der Welt, ihr habt ja hier die Bilder gesehen, dieser unsäglichen Mauer, die durch die meisten Grenzstädte gezogen ist zwischen Mexiko und den USA. Das hat nicht erst unter Trump angefangen. Schon George Bush hat die ersten Mauerstücke bauen lassen und Trump hat es dann propagandistisch ausgeschlachtet.
Und es gibt sogar ein privates Mauerstück zwischen El Paso und Ciudad Juárez. Da haben Leute zusammengelegt, um die Mauer weiterzubauen. Viele, viele Menschen stehen an dieser Grenze und kommen aber auch jeden Tag rüber. Aber es wird natürlich immer gefährlicher und immer schwieriger und immer teurer.
Wenn man an der Grenze lebt, ist es fast normal, Familien über den Highway huschen zu sehen und zum Fluss runter oder eben auch in den Außenbezirken. Wenn man da zu lange an der Mauer fotografiert, dann kommen entweder von der einen Seite die Border Patrol oder von der anderen Seite irgendwelche Schlepper mit Leitern, die gucken: „Was willst du da jetzt?“
Und gleichzeitig sind aber diese beiden Grenzstädte für die Menschen, die da leben, unglaublich verwoben. 80 Prozent der Bevölkerung in El Paso stammt aus Mexiko, und alle Familien im Grenzgebiet haben eigentlich auf beiden Seiten der Grenze Familie. Für diejenigen, die vor Ort leben, ist es relativ machbar, ein Visum zu bekommen, weil es Familienbande gibt oder auch für Studierende. In Ciudad Juárez befindet sich das größte Konsulat der USA weltweit. Die Grenzbevölkerung lebt wirklich zwischen den beiden Städten und manche Familien wohnen auf der anderen Seite und arbeiten der anderen. Ganz viele Schulkinder und Studierende gehen morgens von Mexiko in die USA. Viele Leute aus Mexiko fahren zum Shoppen in die USA und andere wiederum aus den USA nach Mexiko, um dort auf den Markt zu gehen. Es ist sehr absurd, dass es einerseits so eine krasse globale Mauer und Grenze dort gibt, die aber andererseits eben auch wieder auf bestimmten Ebenen völlig durchlässig ist.
Gibt es eine geregelte Migrationspolitik in Richtung USA? Und was hat sich an der Asylpolitik geändert?
Und natürlich besteht diese Grenze noch gar nicht lange, sondern erst seit knapp 200 Jahren, davor waren ja die Südstaaten der USA die Nordstaaten Mexikos und dann hat sich das halt alles verschoben mit einem Krieg. Traditionell gab es immer Migration aus Mexiko. Genau wie hier in Deutschland gab es ein Gastarbeiter:innen-Programm für Leute aus Mexiko, die zur Erntearbeit in die USA gekommen sind und die Migration aus Zentralamerika ist seit den 1980er Jahren gegeben, wegen der Bürgerkriege, Militärdiktaturen, Contra-Kriege in Zentralamerika. Der Unterschied ist, dass das – bis zu den großen Karawanen ab 2019, die dann auch weltweit im Fernsehen waren – immer kleine Gruppen waren, die man kaum auf den Straßen gesehen hat. Mich hat das sehr gewundert, weil ich eben früher im Süden von Mexiko gelebt habe und da war der Anblick von Migrant:innen viel alltäglicher. Seit den Karawanen ist das Ganze an der Grenze viel öffentlicher geworden. Leider hat sich unter Biden nicht viel geändert. Er hat natürlich nicht so rassistischen Diskurs wie Trump und er hatte auch seinen Wahlkampf darauf aufgebaut, halt eine liberalere Migrationspolitik zu werben – aber das ist bis heute leider einfach nicht passiert.
Über die Pandemie hinweg gab es das Dekret 42. Das war eigentlich ein gesundheitspolitischer Titel, mit dem aber das Asylrecht in den USA völlig ausgehebelt wurde. Es konnte niemand mehr über die Grenze gehen und sagen „Hier bin ich, ich will Asyl beantragen“, sondern die Leute wurden einfach aufgegriffen und zurück nach Mexiko geschoben. Das ist jetzt im Mai aufgehoben worden. Gleichzeitig soll aber die gesamte Asylpolitik vollkommen digitalisiert werden. Ich halte das für sehr diskriminierend. Man muss ja erst mal lesen und schreiben und sich irgendwie auf dem Smartphone durch Formulare klicken können. Und dann war es eben wirklich so, dass diese App am Anfang einfach nicht funktioniert hat, sie diente nur dazu die Ankommenden an ihre Smartphones zu fesseln, die natürlich dann auch immer gucken mussten, ob sie mobile Daten haben, ob sie irgendwo Zugang zu öffentlichen WLAN hatten. Und natürlich mussten sie auch erstmal ein Smartphone besitzen. Außerdem war die App nicht ordentlich übersetzt und es war zum Beispiel nicht klar, wo man Familienmitglieder eintragen konnte.
Inzwischen funktioniert die App. Aber es ist natürlich weiterhin die Frage: Darf ein Asylrecht rein digital zugänglich sein? Tatsächlich wurde diese Regelung vor zwei Tagen wieder gekippt, und nun ist wieder die Frage, was passiert dann jetzt?
Wie immer ist es so eine Art Katz und Maus-Spiel an der Grenze. Es ist immer irgendwie so ein kleiner Schritt vor, ein kleiner Schritt zurück, aber eigentlich nichts, wovon man wirklich sagen könnte: Das entspricht den Bedürfnissen der flüchtenden und migrierenden Menschen. Bis Mai waren unglaublich viele Menschen an der Grenze - aus Venezuela, aus Mittelamerika, Haiti, Kuba. Das ist jetzt wieder so ein bisschen abgeflaut, aber es ist natürlich immer eine stetige Bewegung von Menschen Richtung Norden auf der Flucht vor Armut und Gewalt, vor zusammenbrechenden Wirtschaftssystemen.
Ciudad Juárez wurde berühmt durch die dort so zahlreichen Frauenmorde – Feminizide? Wie steht es damit?
Damit hat sich Ciudad Juárez in der Tat den schlechten Namen gemacht, weil es dort die erste große bekannte Hasswelle gegen Frauen gab und der musste man einen Namen geben. Es war tatsächlich so, dass damals der Begriff „Feminizid“ in die Kriminalistik eingeführt wurde. Vorher wurde er nur von US- Akademiker:innen benutzt. Diese erste Welle von Frauenmorden ist tatsächlich bis heute nicht aufgeklärt, einfach weil es damals ein abgekartetes Spiel war zwischen Kartellangehörigen, Unternehmern, hohen Beamten. Zeugen und Beweise wurden sorgfältig aus dem Weg geräumt. Es gibt dazu einiges an journalistischer Recherche, aber eine Aufklärung im juristischen Sinne wird es wahrscheinlich nie geben.
Diese erste Welle hat uns gezeigt, was Straflosigkeit bewirkt. Dass es „normal“ geworden ist, eine Frau umzubringen. Viele Morde an Frauen werden heute in Ciudad Juárez, wie allgemein auf der Welt, von Partnern und Ex-Partnern verübt und eben zumeist nicht von Banden oder von jemand Unbekanntem auf der Straße. Die letzte systematische Mordwelle gab es 2010/2011. Da steckten ganz klar organisierte Kriminalität und Frauenhandel dahinter.
Du hast erwähnt, wie wichtig zivilgesellschaftliche Initiativen in Ciudad Juárez sind. Kannst du uns Näheres dazu erzählen? Welche gibt es und was machen sie?
Es gibt eine ganze Reihe von Initiativen und alle beruhen eigentlich darauf, dass in den 1990er Jahren die Mütter der verschwundenen Frauen auf die Straße gegangen sind. Das waren einfache Fabrikarbeiterinnen, meistens aus dem Süden zugezogen, die dann als einzige gesagt haben: “Hey, meine Tochter ist verschwunden und keiner macht was! Irgendwas muss passieren!“ Sie haben dann, zum Teil unter Lebensgefahr, selbst Untersuchungen angestellt und quasi der Polizei Beweismittel geliefert. Ich denke, dass es wirklich der Ursprung fast der gesamten aktiven Zivilgesellschaft in Ciudad Juárez ist, dass damals die Mütter gesagt haben „Das kann man nicht auf sich beruhen lassen“ und sich Organisationen gegründet haben, die auch international Kontakte geknüpft haben und so eine gewisse Praxis entwickelt haben. Als es dann im sogenannten Drogenkrieg und der militärischen Besetzung allgemein Verschwundene gab, wussten die Leute zumindest was man machen muss, um Leute wiederzufinden.
Inzwischen sind ganz unterschiedliche Initiativen entstanden. Viele Frauen gehen als Feministinnen auf die Straße sind oder engagieren sich in kleinen Kollektiven. Es gibt auch ein städtisches Fraueninstitut, das gute Arbeit macht. Es hat ein Pilotprojekt vorangebracht, einen Sicherheitskorridor im Zentrum von Ciudad Juárez mit Notrufsäulen. Die Mitarbeitenden gehen auch aktiv auf Geschäftsleute zu, um klarzumachen: „Hier im Zentrum von Juárez passiert viel und gleichzeitig sind aber hier so viele Menschen anwesend, um zu verkaufen und zu konsumieren. Also muss es Zeug:innen geben, die das sehen und es muss möglich sein, Strukturen zu schaffen können, dass sich Frauen im Zentrum sicher bewegen können.“
Welche Rolle spielen die Drogenkartelle in Ciudad Juárez?
Durch das Gerichtsverfahren in New York gegen El Chapo, den ehemaligen Boss des Sinaloa-Kartells, sind ja ganz viele Sachen auch international öffentlich geworden, die in Mexiko eigentlich schon klar waren: Dass es nie einen Drogenkrieg in der Form gab, wie es in den Medien meist dargestellt wurde, nach dem Motto „Die Regierung geht jetzt gegen die Kartelle vor und unterbindet den Drogenhandel.“ Das hat es nie gegeben. Was es gegeben hat, war ein geplanter Feldzug. Es gibt auch Argumente dafür, ihn als Vernichtungskrieg zu bezeichnen. Und zwar von Ex-Präsidenten Felipe Calderon, seinem Sicherheitsminister García Luna und eben dem Chapo, also dem Chef des Sinaloa-Kartells. Es gab deswegen auch mal eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, und ich hoffe, dass es irgendwann tatsächlich in diese Richtung weitergehen wird.
El Chapo sitzt nun im Gefängnis, ihm wird der Prozess gemacht. Und er hat den Sicherheitsminister, also quasi rechte Hand des Ex-Präsidenten dermaßen ans Messer geliefert, dass dieser mittlerweile auch angeklagt war. Allerdings ist der Prozess gegen García Luna so schnell eingestellt worden, dass man davon ausgehen kann, dass klar war, dass er zu viel über die Verwicklungen von FBI und DEA erzählen könnte, so dass es für die USA unangenehm würde. Auch hier wieder ein abgekartetes Spiel, denn die USA haben den größten Drogenmarkt der Welt. Wenn sie wirklich wollten, dass Schluss ist mit den mexikanischen Kartellen, hätten sie da ganz andere Maßnahmen zur Verfügung. Aber es ging eben nur um eine Verlagerung der Gewinne. In Ciudad Juárez sah der ganz große Vormarsch des so genannten „Drogenkrieges“ so aus: Das Militär ist mit der Bundespolizei in die Stadt eingerückt, hat die Stadt eingenommen und besetzt. Und das Sinaloa-Kartell ist mitgekommen und hat das Juárez-Kartell angegriffen. Seitdem gibt es eben zwei Kartelle in der Stadt, die um die Vorherrschaft kämpfen und diese mittlere Drogenroute auf dem Kontinent ist einfach aufgeteilt. Und der Präsident von damals, Felipe Calderón, lehrt heute noch in Harvard. AMLO, der heutige Präsident, hat angemerkt, dass man Calderón auch anklagen könnte, aber ich fürchte, das braucht noch Zeit.
Zweiter Teil
Ciudad Juárez gilt ja als eine der Hochburgen für Weltmarken-Fabriken, die so genannten Maquílas? Wie ist der Zusammenhang zwischen der Grenze und diesen Fabriken?
Die Grenzmauer ist ja wirklich etwa sechs Meter hoch, sie sieht aus wie aus einem Zombiefilm – ein populistisches Bollwerk gegen angeblich anbrandende Massen. Ich denke, es ist genauso wie hier im Mittelmeer: Nichts wird Migration aufhalten. Es gibt einfach zu viele Migrationsgründe, die so harsch sind, dass sich die Menschen einfach auf den Weg machen müssen. Und dann ist da eben diese Mauer zwischen den Städten und du musst jemanden bezahlen, um drüber zukommen. Oder du gehst außen rum und brauchst vier Tage durch die Wüste und schwebst noch mehr in Lebensgefahr. Das ist eine Geldfrage, aber nichts, was Leute stoppen kann. Ob es eine physische Grenze ist oder eine durch die Gesetzgebung – beide machen es den Leuten einfach schwerer. Möglicherweise auch, damit nur die Jüngsten, Fittesten durchkommen, die dann drei Jobs auf einmal annehmen. Das sieht man in Ciudad Juárez besonders deutlich, dass diese Welt von der Marktlogik bestimmt wird. Für Menschen ist die Grenze angeblich geschlossen, aber für Waren und Geld ja überhaupt nicht.
In Ciudad Juárez werden die Uhren genauso wie im US-amerikanischen El Paso umgestellt, weil in Ciudad Juárez 300 Weltmarktfabriken angesiedelt sind. Aus Deutschland zum Beispiel Bosch, Deutsche Bahn, Schenker, ganz viele Zulieferbetriebe für Autounternehmen. Aus Schweden Electrolux, aus den USA die Lear Corporation. Insgesamt 300 große Weltmarktführer, die dort hochtechnologische Produkte zusammenbauen lassen. Da gibt es natürlich einen Zusammenhang: Wir haben eine dicke Mauer und ganz viele Leute kommen aus dem Süden an und kommen dann nicht weiter. Sie bleiben dann erst mal im Grenzraum und da ist es dann einfach, dort Fabriken hinzustellen und zu sagen: „Wo ihr schon mal hier seid, könnt ihr ja hier für billige Löhne und ohne Gewerkschaften arbeiten.“ Und gleichzeitig ist die Grenzbrücke nah, um die Produkte zu liefern. Sie sind sofort im US-Markt und in der dortigen Infrastruktur und können rasch in den Weltmarkt eingespeist werden. Wir haben also den populistischen, rassistischen Diskurs von geschlossenen Grenzen, aber dahinter natürlich auch eine ganz klare neoliberale Marktökonomie: Auf der einen Seite sollen Leute sich sammeln und ausgeschlossen von Rechten arbeiten. Und auf der anderen Seite wird konsumiert und verschifft.
Welche Perspektiven haben Jugendliche in Ciudad Juárez?
Da versuchen Organisationen irgendwie einen Ausweg zu geben, aber das ist sehr schwierig. Jugendliche, die bei den Kartellen angefangen haben, werden dann Auftragsmörder oder schmuggeln Drogen. Es ist schwer, jungen Menschen zu sagen: „Macht doch was Legales.“ Einfach, weil Fabrikarbeit eben das einzige ist, was es gibt. Und sie sehen, dass ihre Eltern ihr Leben lang gearbeitet haben und sie haben trotzdem nichts auf dem Tisch. Und leider geht auch die Popkultur in Mexiko immer weiter dahin, dass Leute eben auf totalen Luxus und Kriminalität setzen und alles lieber tun als in Armut dahin zu vegetieren.
Welche Rolle könnte das deutsche Lieferkettengesetz spielen, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen?
Die Frage ist inwieweit dann so ein Lieferkettengesetz überhaupt verbindlich ist oder was dann da wirklich für ein Unternehmen droht. Also ich glaube, da muss ja noch ganz viel nachgezogen werden. Aber es ist auf jeden Fall der richtige Schritt in die richtige Richtung und der richtige Denkansatz. Zu sagen: Hier in Deutschland oder Europa werden groß Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben. Aber was machen eigentlich eure Unternehmen im Ausland? Oder was machen sie da nicht? Und es ist natürlich auch unglaublich kompliziert, einfach weil ja kein Unternehmen mehr an einem Standort sitzt und da alles produziert und das alles im Blick hat. In Ciudad Juárez zum Beispiel, sind es eben ganz viele Subunternehmen, die der Autoindustrie zuliefern. Also ganz viel Innenelektronik für Autos, Autositze, das wird alles in Ciudad Juárez hergestellt. Aber da kommt dann kein fertiges Auto raus, sondern das wird dann wiederum weiterverkauft. an Unternehmen, die im Land sind oder eben in den USA sind. Es ist also auf jeden Fall eine große Aufgabe, diese Lieferschritte nachzuverfolgen. Aber ich denke, es ist gut, wenn auch Unternehmen das selbst im Blick haben müssen und gucken müssen: Wie wird hergestellt, was dann nachher im Auto drin ist? Wenn Druck kommen kann, dass Arbeitsbedingungen vor Ort besser werden, dann muss das aus dem Ausland geschehen. Vor Ort ist das schwierig. Es kann jetzt eine Verbesserung kommen, einfach dadurch, dass es ja so ein neu aufgelegtes Freihandelsabkommen zwischen USA, Mexiko, Kanada gegeben hat. Und danach soll ja viel mehr regionalisiert werden. Der Kontinent sollen zusammenarbeitet und es sollen eben nicht irgendwelche Einzelteile aus China kommen, die dann irgendwie in einer Pandemie nicht mehr ankommen. Alles soll jetzt auf dem nordamerikanischen Kontinent gefertigt werden. Und das bewirkt auf jeden Fall schon mal eine engere Beziehung von den Gewerkschaften in den USA zu bestehenden Gewerkschaften in Mexiko beziehungsweise anzustoßen, dass es eine freie Gewerkschaftswahl geben muss. Viele Gewerkschaften agieren ja als weiße Gewerkschaften, sind vom Unternehmen eingesetzt, machen aber im Grunde genommen keine Gewerkschaftsarbeit.
In Ciudad Juárez gibt es eine wahnsinnig engagierte Anwältin für Arbeitsrecht, Susana Prieto, die sämtliche Fabrikstreiks vertritt und ganz viel öffentlich macht, was in den Fabriken passiert.
Ich wundere mich immer, wie viel zum Beispiel sogar über Kartelle oder über Frauenmorde in der Tagespresse zu finden ist, aber was in den Maquílas passiert, kommt nicht in die Zeitung. Selbst wenn in einer Maquíla ein Brand ausbricht oder es in der Kantine eine Lebensmittelvergiftung gibt, dann wird alles abgeschlossen. Die Fabriktore werden geschlossen und alles bleibt erst mal in der Maquíla. Manchmal filmen einzelne Leute etwas heimlich mit dem Handy. Aber generell dringt nicht nach außen, was in den Maquílas passiert. Und da war es Susana Prieto ganz wichtig, viel zur Organisierung von Arbeiter:innen beizutragen und eben Sachen öffentlich zu machen, auch Streiks öffentlich zu machen. Es gibt viele Streiks in Juárez. Sie werden irgendwie gedeckelt und kommen nicht an die Presse. Susana Prieto wurde mit fadenscheinigen Begründungen während der Pandemie festgenommen und in anderen Bundesstaat verschleppt. Aus vielen Richtungen der Zivilgesellschaft wurde versucht, ihre Freilassung zu veranlassen. Geschafft haben das dann nur die Gewerkschaften aus den USA, indem sie gesagt haben: „Wie kann das sein, dass so eine wichtige Frau in Mexiko im Gefängnis sitzt, wo doch jetzt hier der Arbeitsmarkt zusammenarbeiten soll.“ Das sind immer die Hoffnungen, also dass Druck aus dem Ausland kommt und dann in Mexiko nachgezogen wird. Und ich hoffe trotz allem, dass auch das Lieferkettengesetz mit den Jahren vielleicht ausgebaut wird und es dann die Möglichkeit gibt, auch einem deutschen oder europäischen Unternehmen auf die Pelle zu rücken und zu sagen: „Hey, guck dir die Bedingungen vor Ort an und ändere da was!“
Welche Rolle spielen indigene Gemeinschaften in Ciudad Juárez?
Durch die Migration sind in Ciudad Juárez fast alle indigenen Gemeinschaften Mexikos vertreten, auch wenn es eine totale Industriestadt ist. Und es gibt auch die Community der Rarámuri, die ursprünglich in der Gegend gelebt haben, aber von den spanischen Konquistadoren in die Berge vertrieben wurden. Sie sind seitdem in der Sierra de Chihuahua an ansässig gewesen, einer unglaublich kargen, isolierten Bergregion. Sie wandern jetzt wieder zurück in die Stadt, weil die Narcos immer weiter in die Sierra vordringen, dort illegal Holz einschlagen, Schlafmohn und Marihuana anpflanzen und ein gutes Leben für die Rarámuri dort nicht mehr möglich ist. Sie sind die größte traditionelle Gemeinde, die sich zusammengetan hat, ein Viertel für sich gekauft und sich dort angesiedelt hat. Sie haben auch gute Arbeit geleistet für die übrigen Gemeinden, sind ziemlich gut organisiert untereinander und haben auch einen gewissen Einfluss auf die Stadtpolitik.
Gerade seit einem Jahr ist auch die Minderheit der Nndee an die Öffentlichkeit getreten. Die Konquistadoren hatten sie „Apachen“ genannt, sie selbst bezeichnen sich als Nndee, was „die Menschen“ bedeutet. Ganz lange wurde ja behauptet, in Mexiko gäbe es keine Apachen, sondern nur in den USA. Das ist natürlich Quatsch, weil die ganzen Gebiete vormals mexikanisch waren und die Nndee mit ihren Bisons, ihrer wirtschaftlichen Grundlage, in der ganzen Region umherzogen. Sie sind noch ein Stück südlicher als Cuidad Juárez gezogen, also einmal durch die Ebenen. Und die spanischen Konquistadoren haben ihnen Titel ausgestellt, dass ihnen das Gebiet gehört. Später hielten sie das für einen großen Fehler und haben daraufhin einen Genozid gegen die „Apachen“ begonnen. Die galten eben immer die kriegerischen, gefährlichen und es wurde ganz viel Propaganda gegen sie gemacht, um den Genozid zu rechtfertigen. Auch später, in den 1930er Jahren, gab es nochmals richtige Jagden auf „Apachen“. Vorreiter dafür war der größte Grundbesitzer von Chihuahua, ein Mitglied der Familie Terrazas, der heute noch halb Chihuahua und halb Ciudad Juárez gehört. Bis 1970 waren die Nndee tatsächlich vogelfrei laut mexikanischem Gesetz. Sie konnten also umgebracht werden. Die Nndee Familien haben deshalb ganz im Verborgenen gelebt, um zu überleben. Sie haben heimlich ihre Rituale gemacht und sich als Nndee verstanden, aber unerkannt. Erst mit Hilfe von Social Media haben sie wieder zusammengefunden und sind heute an dem Punkt, in die Öffentlichkeit zu treten und zu sagen: „Uns gibt es als Minderheit in Mexiko.“ Sie wollen jetzt nicht alle Gebiete zurück, dann würden sie ganz schön viel besitzen, aber sie wollen historische Gerechtigkeit. In Chihuahua ist das sofort vom Parlament abgelehnt worden. Dort sind die Nutznießer dieses Genozids noch immer die herrschenden Familien. Wenn die Rechte der Nndee anerkannt würden, wäre das eine politische Bombe.
Gekürztes und leicht überarbeitetes Transkript der Publikumsfragen und der Antworten von Katrin Zeiske. Für Fehler und Auslassungen ist allein das Ökubüro München verantwortlich.
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