El Salvador: Die verschwundenen Kinder

Das verknitterte und vergilbte schwarz-weiß Foto hütet Raul wie einen Schatz. Es ist das einzige, was er von seiner Mutter noch hat. Als Raul vier Jahre alt war, brachte seine Mutter ihn und den ein Jahr jüngeren Jorge in einem kirchlichen Kinderheim in Sicherheit vor den Wirren des salvadorianischen Bürgerkriegs.


Mit sieben erfuhr Raul, dass seine Mutter tot war. Sie war in den kirchlichen Basisgemeinden aktiv, die vom Militär als Zuarbeiter der Guerilla verdächtigt wurden. „Ich wollte das nicht glauben“, sagt der heute 30-Jährige. „Aber jede Nacht umarmte ich meinen Bruder, und wir weinten.“ 1992 endete der Bürgerkrieg in dem mittelamerikanischen Land. Raul war 15. Das Kinderheim leerte sich, fast alle der 125 Kinder konnten zurück zu ihren Familien. Nur sechs, darunter Raul und Jorge, wussten nicht wohin.“ Wir versuchten, uns an unser Zuhause zu erinnern, aber es gelang uns nicht“, erzählt er. Die Verzweiflung ist ihm anzumerken. Die beiden Jungen blieben Kriegswaisen.

Rund 75.000 Menschen starben im Bürgerkrieg, mehr als 8000 gelten als verschwunden. Darunter 871 Kinder. So viele hat jedenfalls die salvadorianische Nicht-Regierungs-Organisation „Pro-Búsqueda “ registriert. Manche von ihnen wurden wie Raul und Jorge als Waisen groß, andere wurden von Militärs adoptiert oder zur Adoption ins Ausland freigegeben. Papiere gibt es in den meisten Fällen nicht, sie verschwanden, wurden im Bürgerkrieg zerstört oder sind bis heute unter Verschluss in Militärarchiven. „60 Prozent der verschwundenen Kinder wurden von Militärs entführt, 40 Prozent verloren sich in den Kriegswirren“, sagt Milton Aparicio von „Pro-Búsqueda “. Die Arbeit der 1994 gegründeten NGO war schwierig. Todesdrohungen waren an der Tagesordnung, die rechten Nachkriegs-Regierungen stritten ab, dass es überhaupt entführte Kinder gebe.

 

Fortschritte nach Regierungswechsel

Erst der erste linke Präsident Mauricio Funes gedachte 2009 den Verschwundenen und begann mit den vom Interamerikanischen Gerichtshof angeordneten Entschädigungszahlungen. ProBusqueda gelang es dank einer mit ausländischer Hilfe eingerichteten ADN-Datenbank und mühseliger Recherchen, das Schicksal von 363 Kinder aufzuklären. 43 davon waren tot, die übrigen wurden in der Schweiz, in Frankreich, in Spanien, Italien, Grossbritannien, Kanada, den USA, Belgien und Holland lokalisiert und konnten mit ihren Ursprungsfamilien zusammengebracht werden.

Doch das Zusammentreffen ist oft schwierig, zu unterschiedlich sind die Lebenswelten. Diese Erfahrung hat auch Raul machen müssen. 2003 fand Pro-Búsqueda seinen leiblichen Vater, der glaubte, die beiden Jungs seien zusammen mit ihrer Mutter im Krieg ums Leben gekommen. Er hatte sich schon vorher von Rauls Mutter getrennt. „Ich war völlig durcheinander, glücklich und nervös, als ich es erfuhr“, schildert der rundliche junge Mann mit dem ernsten Blick und den traurigen, dunklen Augen. Dem Vater – längst wieder verheiratet – ging es ähnlich. Nach der ersten Freude wussten sie aber nicht viel miteinander anzufangen. „Diese Erfahrung machen wir oft, daher raten wir von dauerhaften Familienzusammenführungen auch ab“, sagt Aparicio.

 

Was zählt ist die Wahrheit

100 der adoptierten Kinder haben ihre Ursprungsfamilien einmal besucht, doch dann sind sie zurückgekehrt in ihre Adoptivfamilien. Zu einem zweiten Besuch haben sich nur noch zehn aufgerafft. Für die Angehörigen der Verschwundenen ist dies zwar schmerzhaft, aber die Gewissheit, dass die Kinder am Leben sind, ist auch erleichternd. „Ich bin zwar etwas resigniert, aber habe Frieden gefunden“, sagt Mercedes de Jesús Hernández, deren Sohn Benedicto 20 Jahre lang verschwunden war und dann in Italien als „Stefano Bucolo, 26 und Physiotherapeut, wieder gefunden wurde.

Raul hat keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Ab und zu trifft er sich noch mit dem Großvater mütterlicherseits und dessen Familie. „Wir sehen uns sehr ähnlich“, sagt er lächelnd. Jorge lebt heute bei diesem Teil der Familie auf dem Land. Raul hingegen ist Stadtmensch, arbeitet in einem Büro und ist selbst inzwischen zweifacher Familienvater. „Manchmal bin ich noch traurig, wenn ich an die Vergangenheit denke“, sagt er. „Aber ich bin nicht mehr so rastlos. Ich habe die Wahrheit gefunden.“

Autorin: Sandra Weiss

Quelle: Blickpunkt Lateinamerika

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