El Salvador: Demo im Land der Angst

Die Leute von Movir kämpfen an der Demo für ihre Nächsten. Foto: Movimientos Sociales
Die Leute von Movir kämpfen an der Demo für ihre Nächsten. Foto: Movimientos Sociales

(zas, 18.9.22) In Zentralamerika ist der 15. September Nationalfeiertag in Erinnerung an die erfolgreiche Loslösung der Region vom spanischen Joch. Oft besteht die Feier in den Ländern in Militärparaden, aufgebotenen Schulklassen, applaudierenden Eltern und Musikgruppen. In El Salvador kam es auch dieses Jahr wieder etwas anders.

Seit Wochen haben die beiden grossen oppositionellen Sozialblöcke, der Bloque de Resistencia y Rebeldía Popular (Block des Widerstands und der Rebellion des Volkes) und die Alianza Nacional El Salvador en Paz (Nationale Allianz El Salvador in Frieden) auf den 15. September zu zwei getrennten Demos aufgerufen. Beim Bloque, dem Zusammenschluss von 34+ Sozialorganisationen, treffen sich verschiedene linke Kräfte inklusive eines wichtigen Teils der historischen FMLN-Basis, aber auch neue Bewegungen wie die Juventudes Antifascistas (antifaschistische Jugend), autonome Feministinnen oder kirchliche Segmente. Die Alianza wird zwar von einem Vertreter ehemaliger Guerillas geleitet, aber die bestimmenden Kräfte in ihr sind rechts beheimatet – gelbe Gewerkschaften, die jahrelang alle Reformanstrengungen der früheren FMLN-Regierungen bekämpft haben, Ex-Soldaten mit Armee-verherrlichendem Geschichtsverständnis.

Zentrale Inhalte der Mobilisierung waren die Ablehnung der von der Verfassung eindeutig verbotenen Wiederwahl von Präsident Nayib Bukele (von diesem aber mit einer putschmässig gesäuberten Justiz aufgegleist), die massive soziale Krise inkl. gefährlicher Verschuldung des Staates und die Ablehnung des seit über einem halben Jahr geltenden Ausnahmezustands im angeblichen Krieg gegen die kriminellen Strukturen der Maras (s. dazu Armutsbevölkerung im Visier). Laut Regime haben seither Armee und Polizei über 52'000 angebliche Mara-Mitglieder in (enorm überfüllte) Knäste gebracht. Real handelt es sich um viele vor allem junge Menschen aus Armutszonen, die willkürlich und brutal gefangen genommen werden. Es ist unklar, wie gross dieser Prozentteil an der Menge aller Gefangennahmen ist; einzelne Stimmen sprechen von mehr als der Hälfte, andere von um die 40 Prozent, das Regime weiss von allerhöchstens einem Prozent. Über 80 dieser Verhafteten sind in den Gefängnissen zu Tode gekommen, viele mit Spuren brutaler Misshandlung entweder durch das Gefängnispersonal oder durch Maramitglieder in den Massenzellen. Die Angehörigen wissen oft nicht, wo ihre Nächsten sich befinden, ob die die abgelieferten, manchmal überlebenswichtigen Medikamente erhalten oder nicht, ob sie überhaupt noch leben. In einem Fall hat eine Familie zwei Monaten später auf Umwegen vom Tod ihres Angehörigen erfahren.

Die nach der Einführung der Kryptowährung Bitcoin als zweite nationale Währung vor einem Jahr abbröckelnde Popularität Bukeles stieg dank seinem angeblichem Krieg gegen die Maras in den letzten Monaten laut Umfragen auf der schwindelerregenden Höhe von 80 Prozent. Doch Zweifel sind angebracht. Sicher begrüssen sehr viele Menschen ein hartes Vorgehen gegen die Maras, gerade auch in den Unterklassen, die deren jahrelangen Terror ertragen müssen. Doch ein Blick auf die Umfragen lässt stutzen. Zwar sprechen sich deutliche Mehrheiten für den «Krieg» gegen die Maras aus, doch gleichzeitig wollen die meisten nur richterlich angeordnete Verhaftungen sehen, also keine Gefangennahmen aufgrund des «Eindrucks», den Armee- und Polizeimitgliedern von jemandem haben, und schon gar keine aufgrund von anonymen Denunziationen. Genau diese Willkürklauseln geben aber die Basis für viele Verhaftungen ab.

Viele relevante Tätigkeiten der Regierung (wie etwa die Mittelverwendung) unterliegen einer mehrjährigen Geheimhaltung. Nachdem die Gerichtmedizin wiederholt an Leichen von im Ausnahmezustand Verhafteten Folterspuren diagnostiziert hatte, griff das Regime durch: Die Forensik wurde unter Armeekommando gestellt. Nur um das Ausmass der Politik der Intransparenz (wie man so sagt) anzudeuten: Nachdem das nationale Statistikamt Digestyc, bekannt für seine technisch seriösen Erhebungen, vor wenigen Monaten eine eindrückliche Zunahme der Armut im Land ermittelt hatte, beschloss die bukelistische Parlamentsmehrheit seine Abschaffung, die Zentralbank werde diese Aufgaben fortan übernehmen. Diese Beispiele stehen für die immer totaler werdende Nicht-Information der Bevölkerung, womit der Weg für die pausenlosen Propagandabombardierungen des Regimes in traditionellen und digitalen Medien frei wird.

Doch langsam zeichnen sich noch verschwommen  die Grenzen dieses Modells ab. In der letzten Zeit hört man von noch sehr vereinzelten Episoden, in denen eine Comunidad versucht, die Sicherheitskräfte zu bewegen, auf die Gefangennahme eines Menschen zu verzichten, da dieser in der Gemeinschaft sehr geschätzt und sicher kein Maramitglied sei. Noch vor zwei Monaten war das im Land der Angst unvorstellbar. In den städtischen und ländlichen Armutscomunidades wissen die Leute von vielen absolut willkürllichen Verhaftungen (zwecks Erreichung einer «von oben» vorgegebenen Fangquote, ansonsten Repressalien drohten), von den schlimmen Lagen der betroffenen Familien, die so oft ihre einzige Einnahmequelle verlieren. Die Zeugnisse von Betroffenen sind erschütternd. Diese Realität kann nicht einfach spurlos an den Comunidades vorbeigehen, wie gross auch immer ihre Begeisterung für Bukele und seinen angeblichen Marakrieg ist. Früher oder später muss sich das ausdrücken, Umfragen, Fanatisierung oder digitale Trolle hin oder her.

Der Bloque arbeitet schon seit einiger Zeit an der Formierung eines Komitees von Angehörigen von unter dem Ausnahmerecht gefangen Genommenen. In den letzten Wochen hat sich das konkretisiert, laut einigen Angaben 800 Angehörigen, nach anderen schon doppelt so viele haben sich in der Organisation Movir organisiert. Und Movir war deutlich präsent in der Demo vom 15.

Relativ übereinstimmende BeobachterInnen schätzen die Teilnahme an der Bloque-Demo auf 10-15'000 Leute, jene an der Demo der Alianza etwa auf 3000-5000. Das mag angesichts der Dramatik der Lage relativ gering erscheinen, ist aber im Gegenteil ihr Ausdruck. Im oben verlinkten Artikel wird das über die schrecklichen Zustände im Ausnahmeregime vermittelte Schüren von Angst in der Bevölkerung beschrieben. Wie schon vor dem 1. Mai mussten sich alle die Frage stellen, ob sie das Risiko, eventuell als Mara-SympathisantInnen für unbeschränkte Zeit im «schwarzen Loch» des Gefängnissystems zu verschwinden, in Kauf nehmen wollen. Die Möglichkeit der Teilnahme aus dem Landesinnern war durch die üblichen Strassensperren von Militär und Polizei eh massiv eingeschränkt; die Armee installierte schon drei Tage zuvor erste Kontrollposten auf den Überlandstrassen in die Hauptstadt. Laut Berichten aus historischen FMLN-Zonen im Department Chalatenango getraute sich dieses Mal kaum wer, und schon gar nicht junge Menschen, an die Demo, um unterwegs nicht als Mara-Mitglied gefasst zu werden.

Drei Tage vor dem 15. kündete Bukele eine grosse Militärparade mit viel Musikorchestern und Volksbeteiligung auf einer Strecke bis zum Park Cuscatlán an, dem Besammlungsort des Bloque, an. Am 14. September verkündete er grosszügig einen Feiertag am Freitag, damit die Leute die Brücke machen könnten. Das bekannte Gemisch von Bestechung und Repression.

Zwar kamen mehr Leute an die bukelistische Parade – die Eltern der aufgebotenen Schulklassen sowieso, aber auch viele Schaulustige – toll, wie die Kampfflugzeuge über die Köpfe donnern und so viele Kapellen aufspielen – dennoch blieb die Präsenz weit unter Erwartungen des Regierungslagers, trotz Präsenzkontrolllisten für Staatsangestellte. Die Dimension der oppositionellen Demos verunmöglichte es gleichzeitig, sie als Minianlässe abzutun. Bukele reagierte auf seine Art: An der Parade liess er sich erst gar nicht blicken (die Armee hatte ihren Beginn in Erwartung seiner Ankunft verzögert). Dafür gab er am Abend bekannt, übernächsten Februar erneut für die Präsidentschaft zu kandidieren. Wie geplant, vertrieb das die oppositionellen Demos aus den Schlagzeilen.

Dennoch ist der 15. ein eindeutiger Erfolg für die Sozialbewegungen. Es zeigten sich neue Momente auf dem noch langen Weg in nicht-diktatorische Zustände. Zum einen, dass mehr Leute ihre Angst überwandten als am 1. Mai. Dies, weil die Zustände langsam unerträglich werden – vom Ausnahmezustand über Massenentlassungen öffentlicher Angestellter zum Hunger. Die diffuse, über den Ausnahmezustand verbreitete Angst hatte beispielsweise dazu geführt, dass die bisher krawallfreudigen StrassenverkäuferInnen in San Salvador sich widerstandslos aus dem Stadtzentrum haben vertreiben lassen. Doch jetzt regt sich langsam da und dort Widerstand über die organisierten Segmente hinaus. Beispiel: Bukele will die Comunidades, die sich entlang der Schienen der in den 1980er Jahren stillgelegten Eisenbahn niedergelassen haben, zugunsten einer seit seinem Regierungsantritt angekündigten Superschnellbahn räumen lassen. Aus diesen Comunidades, in denen der Bloque arbeitet, kamen jetzt Leute zur Demo, genauso wie die im Movir organisierten Angehörigen Gefangener, von denen viele Bukele gewählt hatten.

Auch unscheinbare Ereignisse sind bemerkenswert. Gibt es irgendwo einen Verkehrsstau, geht es nicht lange, bis die Kolonne wütend um die Wette hupt. Erst recht, falls ein Bus wegen einer Demo stecken bleibt. Bisher haben Chauffeure und Passagiere die Demos, die sie am Vorwärtskommen hindern, behupt und beschimpft. Am 15. nicht mehr. Mehrfach wurde beobachtet, wie die Leute im Bus still blieben, der Chauffeur nicht vorwärts drängelte. Nein, sie sind nicht in Beifallsbekundungen ausgebrochen. Aber sie fluchten nicht mehr.

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