Ayotzinapa: Verschweigen, Vertuschen, Verleugnen

Zusammenfassung der Ergebnisse der interdisziplinären, unabhängigen Expertengruppe zum Fall Ayotzinapa/Mexiko


Die interdisziplinäre, unabhängige Expertengruppe (GIEI - Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) hat am 6. September 2015 ihren Bericht zu den Gewaltverbrechen in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 in Iguala im Bundesstaat Guerrero vorgelegt.1 Der über 500 Seiten lange Report der GIEI dokumentiert die Angriffe durch Polizei und weitere Uniformierte auf unbewaffnete Studenten und weitere Zivilpersonen in Iguala. 43 Studenten wurden nachweislich durch Polizeieinheiten festgenommen und Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens. Sechs Personen wurden extralegal hingerichtet. Mehr als 40 Personen wurden in jener Nacht – zum Teil schwer – verletzt. Die Expertengruppe weist nach, dass die Ermittlungen der mexikanischen Behörden zu dem gewaltsamen Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa unzureichend waren, Beweise manipuliert und bewusst falsche Untersuchungsergebnisse veröffentlicht wurden.
Die Juristen Alejandro Valencia (Kolumbien), Ángela Buitrago (Kolumbien), Claudia Paz y Paz (Guatemala), Francisco Cox (Chile) und der baskische Arzt Carlos Beristain hatten sechs Monate lang die bisherigen Ermittlungen zu den Verbrechen, die Suche nach den Verschwundenen und die Betreuung der betroffenen Familienangehörigen ausgewertet, zusätzliche Gespräche mit Mitarbeitern staatlicher Institutionen, Betroffenen und Zeugen geführt und international renommierte Sachverständige zu Rate gezogen. Die Einsetzung der GIEI war eine Forderung der Eltern der Lehramtsstudenten. Sie wurde durch eine Vereinbarung zwischen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und der mexikanische Regierung möglich.
Erkenntnisse der GIEI zu den Ereignissen in der Nacht vom 26. auf den 27. September:
- Polizeieinheiten und Militär haben die Studenten über Stunden hinweg überwacht und die Ereignisse über das Koordinationszentrum für Kommunikation der Sicherheitskräfte (C4) gemeldet. Der gesamte Sicherheitsapparat (lokale Polizei, Landes- und Bundespolizei sowie das Militär) waren in Echtzeit über die ersten Angriffe, den Beschuss und die Festnahme unbewaffneter Studenten sowie weiterer Zivilisten in Iguala, durchgeführt von lokalen Polizeieinheiten, informiert. Neben der lokalen Polizei waren weitere Uniformierte an den Übergriffen beteiligt. Diese hatten eine bessere Ausrüstung, wie schusssichere Westen, Helme, Gesichtsmasken und andere Fahrzeuge. Die Identität dieser Uniformierten konnte bislang nicht geklärt werden.
- Polizisten haben außer den Studenten auch zwei Busfahrer festgenommen. Diese Aktion wurde von Landes- und Bundespolizeieinheiten beobachtet, außerdem war mindestens ein Militärangehöriger präsent. Während die Studenten von lokalen Polizisten in Polizeiautos abtransportiert wurden, wurde einer der Busfahrer in einem bundesstaatlichen Fahrzeug abgeführt. Er wurde an einem unbekannten Ort im Zentrum von Iguala festgehalten, bedroht und schließlich frei gelassen. Ein zweiter Busfahrer wurde von Polizisten bedroht, geschlagen und anschließend frei gelassen.
- Alle 43 verhaftet-verschwundenen Studenten saßen in zwei der insgesamt fünf von Studenten besetzten Bussen. In den Akten der Generalbundesanwaltschaft (PGR - Procuraduría General de la República) werden nur vier Busse erwähnt. Der fünfte Bus könnte als mögliches Schlüsselelement wichtige Hinweise über die Motive und die Brutalität der Angriffe auf die Studenten und auf die Augenzeugen der Geschehnisse liefern.
- In einem sechsten angegriffenen Bus fuhr die Fußballmannschaft „Avispones“ nach einem Fußballspiel in Iguala nach Chilpancingo zurück. Der Bus wurde außerhalb von Iguala von Schwerbewaffneten angegriffen. Ein jugendlicher Fußballspieler starb sofort, der Busfahrer wurde schwer verletzt und starb kurz darauf. Weitere Personen wurden bei dem Angriff zum Teil schwer verletzt.
- Im Kontext der Angriffe wurden außerdem zwei Taxis beschossen. Eine Frau wurde bei diesem Übergriff erschossen.
- Ballistische Untersuchungen zeigen, dass für diese extralegalen Hinrichtungen Polizeiwaffen eingesetzt wurden.                     
- Über das Koordinationszentrum für Kommunikation der Sicherheitskräfte (C4) ist die Überwachung der Studenten sowie die erste Phase der Übergriffe und Festnahmen dokumentiert. Nach diesen ersten Verbrechen sowie in der Phase weiterer Übergriffe sperrte das Verteidigungsministerium offenbar das Kommunikationssystem.

Auswertung der staatlichen Ermittlungen durch die GIEI:
- Ermittelnde Behörden und Generalbundesanwaltschaft (PGR – Procuraduría General de la República) haben die Beweisaufnahme unter Missachtung grundlegender Standards durchgeführt. Beweismaterial wurde erst Stunden nach den Verbrechen aufgenommen und an mehreren Tatorten wurde gar keine Beweissicherung durchgeführt. Verschiedene Überwachungsvideos und Bildmaterial wurden nicht ausgewertet.
- Weitere Tatorte wurden erst Monate später auf Betreiben der GIEI aufgesucht und zusätzliche Beweise (Rucksäcke der Studenten, Kleidungsstücke) gesichert. Der Zugang zu bestimmten Tatorten, involvierten Fahrzeugen sowie potentiellen Zeugen wurde der GIEI verweigert.
- Die Autopsieberichte von drei in jener Nacht ermordeten Studenten sind ungenau. Nicht alle Verletzungen wurden dokumentiert, die Todesursachen nicht eindeutig vermerkt.
- Im ersten Moment wurden nur untere und mittlere Ränge der lokalen Polizei befragt und verhaftet, keine Dienstvorgesetzten. Mutmaßliche Täter hatten ausreichend Zeit Beweismaterial zu manipulieren und ihre Flucht vorzubereiten. Der Bürgermeister von Iguala und seine Frau sowie der Direktor für öffentliche Sicherheit tauchten Stunden nach der Tat unter.
- Als Zeugen wurden ausschließlich in Haft sitzende mutmaßliche Täter befragt. Deren Versionen über die Ereignisse sind widersprüchlich, lückenhaft und halten keinerlei Überprüfung stand.
- Erst auf Nachfragen durch die GIEI wurden eine Vielzahl von Personen als Zeugen befragt, darunter zum Beispiel auch die Busfahrer der von Studenten besetzten Busse.
- Das Militär ist trotz Präsenz vor Ort nicht bereit, Dokumente offen zu legen oder Zeugenbefragungen durchführen zu lassen. Die GIEI durfte keine Interviews mit Mitgliedern des Bataillons 27 führen.
- Die Übergriffe auf den fünften von Studenten besetzten Bus blieben in den Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft unerwähnt. die Befragung des Busfahrers fand erst auf Betreiben der GIEI statt. Seine Aussagen widersprechen anderen Zeugenaussagen und Dokumenten. Der Bus selbst als Tatort wurde nicht gesichert. Erkenntnisse aus in den USA anhängigen Prozessen wurden nicht in den Ermittlungen berücksichtigt. Dort wird davon berichtet, dass Reisebusse zwischen Iguala und Chicago für den Drogenhandel benutzt werden. Die Studierenden könnten unwissentlich einen solchen Bus besetzt haben.
- Trotz ihrer Hypothese, die Gewaltverbrechen seien im Auftrag einer Bande der organisierten Kriminalität durchgeführt worden unternahmen die ermittelnden Behörden nichts um kriminelle Strukturen vor Ort aufzudecken. Finanzströme oder Verbindungen von Mitgliedern des Sicherheitsapparates, Beamten und Politikern zur organisierten Kriminalität wurden nicht untersucht.
- Der Verdacht auf extralegale Hinrichtungen wurde bei den Ermittlungen nicht berücksichtigt. Das hatte schwerwiegende Konsequenzen: Weder konnten Opfer geschützt, noch weitere Verbrechen verhindert werden. Zudem entsprach die Spurensicherung nicht den  im Protokoll von Minnesota festgelegten internationalen Leitlinien für die Untersuchung von extralegalen und willkürlichen Hinrichtungen.
- Mutmaßliche Täter wurden in der Haft misshandelt; diese Misshandlungen sind teilweise dokumentiert. Zeitpunkt und der Art der Verletzungen lassen darauf schließen, dass sie möglicherweise bewusst während der Haft verursacht wurden. Dennoch haben die zuständigen Behörden das Istanbul-Protokoll zum Nachweis von Folterspuren nicht angewendet. Es liegen keine Einzelfallstudien zu verletzten inhaftierten Personen vor. Eine entsprechende Untersuchung von möglichen Folterungen müsste durch Experten vorgenommen werden. Die Betreuung der verletzten Verhafteten ist unzureichend.

Bewertung der strafrechtlichen Verfahren durch die GIEI
- Die Haftbefehle und Anklageerhebungen basieren auf unzureichenden, widersprüchlichen und möglicherweise unter Folter erzwungenen Daten hinsichtlich der Taten, Tatorte und Ereignisse.
- Die von der PGR vertretene These, die Studenten seien Mitgliedern der organisierten Kriminalität übergeben worden und auf der Müllhalde von Cocula verbrannt worden, ist nicht haltbar. Auf Basis neuer Untersuchungen kann die GIEI belegen, dass auf der Müllhalde im Rahmen der angegebenen Zeit und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln kein entsprechendes Feuer brannte.
- Bislang wird ausschließlich wegen Entführung ermittelt – nicht aber wegen Verdachts auf gewaltsames Verschwindenlassen. Außerdem sind bislang keine Anklagen wegen Mord, Folter, Machtmissbrauch, unverhältnismäßiger Anwendung von Gewalt, Verletzungen und Drohungen erhoben worden.
- Bislang werden die Verbrechen in 14 strafrechtlichen Verfahren, vor acht Gerichten in unterschiedlichen Städten des Landes bearbeitet. Kein einziger zuständiger Richter kennt alle Verfahren, Anklagepunkte oder bisherigen Erkenntnisse. Sämtliche Gerichte haben lediglich Zugang zu einzelnen Informationen. Das beeinflusst die Verfahren grundlegend, da Erkenntnisse nicht zusammengefügt, hinterfragt und ergänzt werden können.

Auswertung der Suche nach den verhaftet–verschwundenen Studenten
- Behörden des Bundesstaates Guerrero waren in Echtzeit über die Übergriffe informiert. Der Staatsanwalt von Guerrero, Iñaky Blanco Cabrera, hat dennoch die bundesstaatlich vorgesehenen Maßnahmen für Suche nach verschwundenen Personen nicht umgesetzt. In Guerrero war in September 2013 eine Behörde zur Suche nach Verschwundenen installiert worden; im August 2014 wurde ein Protokoll zu Ermittlungen und Suche von nicht lokalisierbaren Personen verabschiedet.
- Die sofortige Suche, für welche die ersten 72 Stunden nach dem Verschwindenlassen von größter Bedeutung sind, fand ohne eine Analyse der zur Verfügung stehenden Informationen statt. Sie wurde ohne Koordination zwischen den staatlichen Institutionen durchgeführt. Es wurde nicht gezielt nach den verhaftet-verschwundenen Studenten gesucht, vielmehr wurden nur jene Studenten „eingesammelt“, die sich während der Nacht aufgrund der Angriffe durch die Polizei versteckt hatten.
- Familienangehörige, die nach den Studenten suchten, wurden von Personen in Zivil verfolgt und fotografiert. Es konnte dokumentiert werden, dass diese Personen unter anderem direkten Kontakt zum 27. Bataillon der mexikanischen Streitkräfte hatten.
- Erst ab dem 30. September 2014 koordinierten sich die zuständigen Behörden minimal für ihre Aktivitäten bei der Suche. Insgesamt blieb die Suche oberflächlich und entsprach keiner tatsächlichen Suche nach den Verhaftet-Verschwundenen.

Die Auswirkungen des Verschwindenlassens für die Kommilitonen und Familienangehörigen der Studenten
Die Studenten des Lehrerseminars von Ayotzinapa sind traumatisiert und haben erhebliche Schwierigkeiten, sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Ganz besonders gilt dies für diejenigen, welche die Verbrechen in Iguala direkt miterlebten. Erschwerend kommt hinzu, dass sie wiederholt reviktimisiert werden, beispielsweise durch Drohanrufe.
Viele Eltern der verhaftet-verschwundenen Studenten sind nach den Ereignissen körperliche und psychisch erkrankt. Die ohnehin meist prekäre wirtschaftliche Situation der betroffenen Familien hat sich deutlich verschlechtert, sowohl durch erhöhte Ausgaben für die Suche als auch durch Einkommensverluste. Fahrtkosten zwischen dem Lehrerseminar in Ayotzinapa und den Heimatdörfern der Studenten sowie Reisekosten für die Suche mussten finanziert werden. Gleichzeitig gingen Ernten verloren und/oder neue Aussaaten waren nicht möglich. Eltern verloren ihre Arbeitsplätze und damit verbundenes Einkommen. Auch die Familien der verletzten Studenten sind direkt betroffen. Kosten für die Versorgung der Verletzten wurden nur teilweise durch staatliche Behörden aufgebracht.
Kinder und jugendliche Geschwister der verhafteten-verschwundenen Studenten sind in ihrer körperlichen Entwicklung, ihrer Gesundheit und ihrem psychischem Wohlbefinden beeinflusst. Schulische Leistungen haben sich deutlich verschlechtert.
Die Familienangehörigen der verhaftet-verschwundenen Studenten leben in einer Situation von Leid und ständiger Unsicherheit. Sie haben immer noch keine Klarheit über die Übergriffe in jener Nacht und den Verbleib ihrer Angehörigen. Die erfundenen, falschen und widersprüchlichen Angaben der Behörden über die Verbrechen haben diese Situation deutlich verschärft.

Zum weiteren Vorgehen
Die GIEI empfiehlt, die Betroffenen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Ermittlungen zu stellen. Dazu sind Maßnahmen umzusetzen, die einen deutlichen Wandel im Verhalten staatlicher Behörden signalisieren und eine Kongruenz zwischen Worten und Taten widerspiegeln.
Das Ausmaß an Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten ab Anbeginn der Übergriffe durch lokale Polizeieinheiten und unter Beobachtung durch weitere Sicherheitskräfte – ohne dass diese zum Schutz der Opfer eingegriffen hätten – hat dazu geführt, dass einzelne Personen sich bis heute aus Angst weigern, als Zeugen aufzutreten. Die offensichtliche Möglichkeit des massiven Machtmissbrauchs durch staatliche Akteure wirkt bis heute nach.
Die GIEI kann aufgrund ihrer Untersuchungen nicht den Hintergrund der Gewaltexzesse erklären. Die Expertenkommission hebt aber hervor, dass ein hohes Maß an Gewaltanwendung gegenüber den unbewaffneten Opfern von Anfang an eingeplant war. Die Angriffe und Festnahmen wurden durch lokale uniformierte Polizeieinheiten und weitere uniformierten Aggressoren durchgeführt. Zahlreiche Polizeifahrzeuge waren im Einsatz. Die Aktionen an den verschiedenen Tatorten wurden koordiniert durchgeführt. Von den 43 verhafteten Studenten fehlt bis heute jede Spur. Nur von einem der Opfer wurden verbrannte Knochenreste identifiziert.1 Die Täter hatten ausreichend Zeit Spuren zu verwischen, Beweise zu unterschlagen und die Taten verschleiern. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es ein Oberkommando für die Planung, Durchführung und anschließende Verschleierung der Verbrechen gegeben haben muss.
Gleichzeitig sind die bisherigen Ermittlungen der PGR derart unzureichend und widersprüchlich, dass sie weder die Ereignisse der Nacht dokumentieren, noch die von der PGR angenommenen Thesen untermauern oder Rückschlüsse auf die Ursachen der Gewaltverbrechen zulassen.
Die GIEI empfiehlt daher, die Ermittlungen neu aufzunehmen. Alle Hypothesen sind zu überprüfen, neue aufzunehmen. Die Beweise sind erneut zu sichten, weiteres Beweismaterial ist in die Untersuchungen aufzunehmen und auszuwerten. Alle vor Ort präsenten Einheiten von Sicherheitskräften sind in die Ermittlungen einzubeziehen. Dabei ist zu überprüfen, ob die Polizei- und Militäreinheiten ihren bestehenden Aufgaben entsprechend gehandelt haben, insbesondere gemäß ihrer Pflicht, die Bürger zu schützen. Gegen weitere mögliche Täter muss ermittelt werden, ebenso wie gegen mögliche Drahtzieher der Verbrechen. Zudem ist gegen alle Beamten vorzugehen, die im Verlauf der bisherigen Ermittlungen Beweise unterschlagen oder gefälscht haben.
Desweiteren empfehlen die Experten die Suche nach den verhaftet-verschwundenen Studenten aufzunehmen. Dazu müssen u.a. Erkenntnisse aus anderen Ermittlungen und die Untersuchung der bisher gefundenen Gräber und Leichen berücksichtigt werden.  Technische Möglichkeiten, wie etwa die Auswertung von Satellitenbildern, sind zu nutzen.
Außerdem ist die Betreuung der Familienangehörigen zu verbessern. Ein Mechanismus zur regelmäßigen Kommunikation mit den Betroffenen sollte eingerichtet, Schutz- und Präventionsmaßnahmen ausgearbeitet und umgesetzt werden.

 

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