Straflosigkeit per Beschluss des Obersten Gerichtshofs


Dieses Jahr beginnt der Bericht über die Lage der Menschenrechte in Mexiko nicht  mit folgendem Satz: „Wie letztes Jahr... nur schlimmer“. Es ist nicht so, dass sich die Lage verbessert hätte, die Menschenrechtssituation besser geworden wäre. Aber wir haben dieses Jahr einen Titel für diesen Teil des Jahresberichts, der die Realität in Mexiko besser widerspiegelt: „Straflosigkeit per Beschluss des Obersten Gerichtshofs“. Überall auf der Welt, auch in Mexiko, sind die obersten Gerichtsorgane dafür da, Gerichtsbarkeit und Gerechtigkeit zu garantieren. Eine Art letzte Sicherung, die auch dann, wenn alle Instanzen fehlerhaft entschieden haben, für Gerechtigkeit sorgt... Leider ist das aber zu schön, um wahr zu sein.
NEIN!, der Oberste Gerichtshof in Mexiko ist nicht unfehlbar, mit einigen seiner Entscheidungen im Jahr 2009 hat er sogar bewiesen, dass er unter denselben Fehlern leidet wie das gesamte System.

 

Wenn eine solche Repression nicht von oben angeordnet wurde, wer kontrolliert die Repressionskräfte in Mexiko?

 

Am 3. und 4. Mai 2006 ließen die Bundes-, Staats- und Stadtregierungen die »Operation Rettung« in Texcoco und San Salvador Atenco ausführen. Die Repression forderte das Leben von zwei Jugendlichen, sie wurden ermordet. Es gab Schwerverletzte, hunderte gefolterte Gefangene, Massenvergewaltigungen, minderjährige Verhaftete, Deportationen und 13 Inhaftierte. Mehr als zehn  Gerichtsprozesse laufen noch.
Zu diesem Fall haben die höchsten RichterInnen des Landes im Februar 2009 beschlossen, dass es im Zuge der Repression 2006 Menschenrechtsverletzungen gab, dass der Staat zu hart reagiert hat. Sie „vergaßen“ aber, die Verantwortlichen dafür zu identifizieren zur Rechenschaft zu ziehen. Und das, obwohl der Gouverneur des  Bundesstaates Mexiko (Estado de Mexico), Enrique Peña Nieto, und der ehemalige Präsident Mexikos, Vicente Fox,  unmittelbar nach dem Ansturm auf Atenco ihre Verantwortung vor laufenden Kameras voller Stolz zugegeben hatten.
Am 22. Dezember 1997 war die Gemeinde Acteal in Chiapas Schauplatz eines Massakers an 15 Kindern, 21 Frauen, vier von ihnen schwanger, sowie neun Männern. Weitere 25 BewohnerInnen wurden leicht bis schwer verletzt. Die 45 Opfer des Massakers waren Mitglieder der indigenen Kleinbauernorganisation „Abejas”. Das Massaker geschah, ohne dass die Policía de Seguridad Pública (Polizei der öffentlichen Sicherheit), deren Kasernen kaum 200 Meter entfernt lagen, eingriff.
Die Zivilgesellschaften von Mexiko und anderen Ländern haben sich stark für eine ausführliche Aufklärung des Falles eingesetzt. Auch wenn 57 der Täter inhaftiert wurden, ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Die Drahtzieher des Massakers sind nie verurteilt worden.
Als der Oberste Gerichtshof den Fall Acteal angenommen hatte, dachten viele, dass endlich eine grundlegende Entscheidung darüber fallen würde. Worüber dann aber beraten wurde, war, dass die inhaftierten Paramilitärs, die das Massaker durchgeführt haben, wegen Prozessfehlern freigelassen werden sollten. Diese Entscheidung war ein Ausweg, um eine wichtige und verantwortungsvolle Lösung des Problems zu vermeiden. Die Ironie ist, dass die Fehler im Prozess der Grund für die Freilassung von geständigen Mördern sind, während tausende Unschuldige seit Jahren die mexikanischen Gefängnisse gerade aufgrund von fehlerhaften Prozessen füllen. Der Fall wurde von mexikanischen Regierung als ein Meilenstein zum Zugang zu gerechter Behandlung von Indigenen vor den Instanzen der Justiz präsentiert. Die Überlebenden des Massakers von Acteal wurden damit zum wiederholten Mal zu Opfern gemacht.
Wenige Tage später mussten die RichterInnen wieder ein heißes Eisen anfassen, diesmal ging es um die zivile Gerichtsbarkeit für Militärangehörige.
Es handelt sich hier um einen Fall vom März 2008. Militärangehörige eröffneten in Santiago de los Caballeros (Bundesstaat Sinaloa) das Feuer auf ein Fahrzeug. Bei dem Vorfall wurden vier Personen getötet und zwei weitere verletzt. Hinweise darauf, dass die Opfer bewaffnet waren bzw. eine Bedrohung darstellten, gab es nicht.
Die zunehmende Anzahl von Klagen zeigt, dass durch den Einsatz von Militär für polizeiliche, inländische Aufgaben die Menschenrechtsverletzungen durch Soldaten angestiegen sind. Die mexikanische Verfassung besagt im Artikel 13 folgendes: Wenn ein Zivilist in einen militärischen Fehler oder ein Delikt involviert wird, geht der Fall an die zivile Justiz. Nur Verstöße gegen die militärische Disziplin werden unter dem Kriegsrecht behandelt. Wie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen (u.a. unsere PartnerInnen von Centro ProDH und Red TDT) berichten, werden solche Fälle nicht von der zivilen, sondern der militärischen Justiz behandelt. Die Begründung dafür finden die Richter in §57, Abs. II der Wehrstrafprozessordnung, der besagt: Zivile Delikte stellen einen Verstoß gegen die militärische Disziplin dar, wenn sie von Militärangehörigen begangen werden. Diese Auslegung ist im internationalen Strafrecht unannehmbar.
Der Oberste Gerichtshof hat sich erneut seiner Pflicht entzogen, mit der Begründung, private Personen könnten keine Klage an diese Instanz einreichen. Fakt ist, dass  Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, die durch Militärangehörige begangen werden, weiterhin vor Militärgerichten verhandelt werden dürfen. So werden diese Gerichte zu Garanten der Straflosigkeit. Eine Sichtweise, die wir teilen; denn vor dem Militärrichter wird ein Todesdelikt seitens eines Soldaten als disziplinärer Fehler gehandelt.
Am 14. Oktober 2009 fällte das höchste Gericht Mexikos ein Urteil über schwere Menschenrechtsverletzungen infolge des sozialen Aufstands in Oaxaca im Jahr 2006. An der Verantwortung des Gouverneurs Ulises Ruiz für die Menschenrechtsverletzungen zweifelt niemand. Viele hatten sich erhofft, dass u.a. der Name des ehemaligen Präsidenten Vicente Fox oder des Bundestaatsanwalts a.D. Daniel Cabeza de Vaca genannt würde. Aber keine Funktionäre auf Bundesebene wurden für die Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2006 zur Verantwortung gezogen. Das oben genannte Urteil hat auch keine direkten Konsequenzen. Es ist nur eine Art „Feststellung“. Andere Justizorgane sollen sich mit möglichen Strafen auseinandersetzen.
So haben die höchsten RichterInnen des Landes dieses Jahr alle wichtigen Entscheidungen in Sachen Menschenrechte zu Ungunsten der Bevölkerung gefällt. Doch die geschilderten Fälle waren nicht alles in Bezug auf die Zementierung von Straflosigkeit.
Marisela Ortiz von unserer Partnerorganisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (NHRC) bezeichnete die Ernennung von Arturo Chávez Chávez zum Bundesstaatsanwalts als einen Schlag ins Gesicht aller, die gegen die Straflosigkeit bei den Frauenmorden in Mexiko kämpfen. Als die systematischen Frauenmorde in Ciudad Juárez und Chihuahua ihren tragischen Höhepunkt erreichten, hatte Chávez Chávez verschiedene Posten in der Justizbehörde von Chihuahua inne. Ihm wird vorgeworfen, die Aufklärung der Frauenmorde verhindert zu haben. Trotz bundesweiter und internationaler Proteste gegen seine Ernennung wurde er am 24. September 2009 vom Senat zum Bundesstaatsanwalt ernannt.
Auch in der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) gab es 2009 einen „Chefwechsel“. José Luis Soberanes wurde von Raúl Plascencia abgelöst. Für die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen hat dieser Wechsel in der Praxis keine Bedeutung. Plascencia belegte in den letzten 10 Jahren wichtige Posten bei der CNDH und ist dadurch maßgeblich für das sehr kritisierte Leistungsverhalten von Soberanes mitverantwortlich.
Die letzten zwei Verurteilungen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind ein weiterer Beweis für die prekäre Lage der Menschenrechte in Mexiko.
Binnen weniger Tage wurde das Land wegen zwei hochsensibler Themen verurteilt: wegen der Frauenmorde in Ciudad Juárez sowie wegen des „Verschwindenlassens“ von Menschen im Bundesstaat Guerrero.
Die Urteile sind in verschiedener Hinsicht wichtig: Sie geben den Angehörigen der Opfer Recht in ihrer Klage, sie zeigen die schwerwiegenden Mängel im Prozessverlauf auf, sie verurteilen die Stadt wegen des nicht ausreichenden Schutzes der Menschenrechte, sie weisen auf juristische Widersprüche in der Gesetzgebung hin und sie verpflichten den mexikanischen Staat auf Widergutmachung.
Laut einer Schätzung der Bank of America Securities-Merrill Lynch wird die mexikanische Wirtschaft in 2009 um 3,2 Prozent schrumpfen. Die Weltbank nennt die Zahl von 4,15 Mio neu hinzugekommenen Armen, das ist die Hälfte der neuen Armen in gesamt Lateinamerika.
Das Krisenmanagement der mexikanischen Regierung ist einfach falsch, wie einige renommierte Wirtschaftswissenschaftler sagen. Als Mittel gegen das Schrumpfen der Wirtschaft beschloss das Parlament auf Vorschlag der Exekutive die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Man muss keinen Preis in Oslo bekommen haben, um zu wissen, dass dies die unsozialste aller Steuern ist. Jedoch rechtfertigte Calderon diesen Schritt als Armutsbekämpfung. Wen wundert es da, dass die soziale Spannung weiter angestiegen ist? Auch hier sieht man die Unfähigkeit der Regierung, mit einer widrigen Situation umzugehen. Statt auf Dialog mit den sozialen Bewegungen zu setzen, scheinen Stumpfsinn und Repression die gewählten Auswege zu sein... wie das Lied von „Todos Tus Muertos“ besagt: „Wer mit Feuer spielt, verbrennt sich, und wer den Dämon sucht, wird ihn kennenlernen“.
Aufgrund dessen haben wir dieses Jahr die Schwerpunkte unserer Solidaritäts- und Menschenrechtsarbeit auf die Bekämpfung der Straflosigkeit um die Frauenmorde und auf Öffentlichkeitsarbeit gegen die Repression der sozialen Proteste gelegt.
Im Jahr 2010 werden wir weiter zu diesen beiden Themen arbeiten, unter anderem mittels der Einladung einer Gastreferentin aus Oaxaca.
Das Jahr 2010 hat für viele eine besondere Bedeutung. Es werden zwei wichtige Jubiläen gefeiert, 200 Jahre Unabhängigkeit und 100 Jahre Beginn der mexikanischen Revolution. Vieles deutet darauf hin, dass sich nächstes Jahr etwas von großer Bedeutung in Mexiko ereignen kann. Aufmerksames Warten ist angesagt.

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