Brasilien und der gesellschaftliche Disput um Agrargifte

Von Christian Russau

In Brasilien boomt seit Jahren der Umsatz der meist ins Ausland exportierten Cash Crops wie Soja, Mais, Baumwolle, Kaffee und Orangensaftkonzentrate. Und Brasilien wurde binnen weniger Jahrzehnte zum Weltmeister beim Verbrauch von Agrarchemikalien. Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen Pestizide in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Pestizidverbrauchers weltweit. Und mit Tereza Cristina ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrargifte Landwirtschaftsministerin geworden. „Brasilien – das Paradies der Agrargifte“, so titelte das angesehene Portal Carta Capital im Juni 2019.

„Pflanzenschutz“: Kampf um Deutungshoheiten

Achtung Gift
Achtung Gift - Foto: Christian Russau

Dieser Imageschaden bleibt nicht ohne Reaktion: Eine Koalition aus Politiker*innen und Großfarmer*innen hat sich mittlerweile zusammen mit Industrievertreter*innen daran gemacht, die medialen und gesellschaftlichen Narrative um agrarchemikalische Wirkstoffe durch Wortverschiebungen zu beeinflussen.

In Brasilien war es ab spätestens 1988, dem Jahr der neuen Verfassung, in öffentlichen Dokumenten üblich, von „agrotóxicos“ (deutsch: „Agrargiften“) zu sprechen, so z. B. §4 von Kapitel 5 der brasilianischen Verfassung, wo es um die Rechte und Pflichten öffentlicher Kommunikation geht. Dort ist explizit von „agrotóxicos“ die Rede. Auch ein Jahr später, im Gesetz Nº 7.802/1989 ist in den Grundlagenbestimmungen über Produktion, Lagerung, Verwendung und Entsorgung von Agrarchemikalien explizit von Agrotóxicos die Rede. Hintergrund war, dass einem Großteil der damaligen Verfasser*innen der Gesetze die Gefährlichkeit und Giftigkeit der Agrotóxicos in der Tat bekannt und ihnen bewusst war. Diesen war für die Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung die vom Staat verwendete Begriffswahl für Produkte wichtig, um den Menschen die Gefahr einer potenziellen Vergiftung vor Augen zu führen.

Diese Vorsichtsmaßnahme scheint aber mittlerweile nicht mehr so viel zu zählen wie gesteigerte Produktionsmengen und Profite. Laut dem neuen Gesetzesentwurf 6299/2002 soll der Begriff Agrotóxicos sogar aus offiziellen Dokumenten gestrichen und durch „Pestizide“ ersetzt werden. Doch selbst dies geht einigen Parlamentarier*innen nicht weit genug: Nicht wenige Anhänger*innen der „ruralistas“ genannten, parteiübergreifenden Fraktion der Großfarmer*innen-Lobby würden lieber den Begriff „defensivo agrícola“ oder „defensivo fitossanitário“ einsetzen, was dem im Deutschen mittlerweile üblichen „Pflanzenschutzmittel“ am nächsten käme.

„Wenn der Landwirt weiß, dass das Produkt giftig ist, verwendet er es entweder mit erhöhter Sorgfalt oder sucht nach einer anderen Möglichkeit, den Schädling, den Erreger oder die invasive Pflanze zu bekämpfen“, so Adilson D. Paschoal von der Abteilung für Entomologie der Landwirtschaftlichen Fakultät der Bundesuniversität von São Paulo, USP. Den Begriff „Gift“ durch harmlosere Begriffe zu ersetzen, hält Paschoal für gefährlich: „Das ist ein unzulässiger und einseitiger Rückschritt, der darauf abzielt, die wahre Natur dieser Produkte, nämlich ihre Giftigkeit, zu verbergen".

Steigende Krebsraten im Bundesstaat Matto Grosso

Wenn die insgesamt in Brasilien pro Jahr ausgebrachte Menge Agrargifte auf die Bevölkerung heruntergerechnet wird, so kommt man auf die erschreckende Menge von 7,3 Litern je brasilianischer Bürger*in. Dies ist aber „nur“ der Landesdurchschnitt. Brasilienweiter Spitzenreiter beim Versprühen von Agrargiften ist der Bundesstaat Mato Grosso: Dort wurden laut Berechnungen des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso (Indea) in den Jahren 2005 bis 2012 jährlich 13,3 Prozent (140 Millionen Liter) aller in Brasilien ausgebrachten Agrargifte versprüht. In der Gemeinde Sapezal, im Bundesstaat Mato Grosso, wurden im Jahr 2012 neun Millionen Liter Agrargifte zur Anwendung gebracht. Dies sind die letzten verfügbaren Daten des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso (Indea). Rechnet man die Menge an Agrargift auf ganz Brasilien um, resultieren die erwähnten 7,3 Liter pro Person. In Sapezal aber liegt dieser Wert 52 Mal höher: 393 Liter pro Person, auf der Basis der Bevölkerungszahl von 2016.

„Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man es beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Pestiziden“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte („Campanha permanente contra os agrotóxicos e pela vida“). Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte bei einer Untersuchung fest, dass es in 13 Munizipien (644.746 Einwohner*innen laut letztem Zensus 2015), in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurde, 1.442 Fälle von Magen-, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs gab. In den 13 Vergleichsmunizipien (219.801 Einwohner*innen laut letztem Zensus 2015), wo statt agrarwirtschaftlicher eine vorwiegend touristische Nutzung stattfand), lag die Zahl der Krebsfälle bei 53. Daraus errechnet sich in agrarwirtschaftlich genutzten Munizipien eine Krebsrate von 223,65 je 100.000 Einwohner*innen, in vorwiegend touristisch genutzten Munizipien ergibt sich eine Krebsrate von 24,11 je 100.000 Einwohner*innen. In Munizipien, wo eifrig Pestizide gesprüht werden, liegt die Krebsrate also statistisch um den Faktor 8 höher.(1)

Hinzu kommt: In Brasilien werden jedes Jahr Tausende von brasilianischen Bürger*innen durch Agrargifte vergiftet. Die Zahl steigt dabei Jahr für Jahr an: 2007 lag sie bei 2.726 Fällen, 2017 schon bei 7.200, ein Anstieg um 164 Prozent.(2)

Rückstände in Nahrungsmitteln und Trinkwasser

Aber auch nicht-landwirtschaftlich genutzte Regionen sind von Agrargiften betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrachemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut jüngsten vorliegenden Zahlen (2017/18) der Nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung ANVISA wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte(3) in 23% der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.(4)

Ein weiterer äußerst kritischer Bereich ist der des Trinkwassers. Das Gesundheitsministerium prüft laut geltender Verordnung bislang auf 27 Stoffe(5), die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können(6). 16 dieser Substanzen gelten laut Anvisa als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, 11 werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Missbildungen, hormonellen oder reproduktiven Störungen in Verbindung gebracht.(7) Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75 Prozent der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden. 2015 stieg dieser Wert auf 84 Prozent, 2016 auf 88 Prozent und 2017 auf 92 Prozent.

Andernorts verboten – in Brasilien erlaubt

Die Regierung von Jair Bolsonaro gibt indessen weitere hochgiftige, andernorts verbotene Agrargifte frei, wie keine Regierung zuvor. Marcos Pedlowski ist Professor an der Universidade Estadual do Norte Fluminense in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro. Seinen Berechnungen zufolge lag in den Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT der jährliche Durchschnitt für Neuzulassungen bei 140 Pestiziden, Herbiziden und Insektiziden, die Temer-Regierung steigerte diese Zahl 2017 und 2018 auf 277 bzw. 405. Die Bolsonaro-Regierung toppte dies noch einmal: Im ersten Regierungsjahr von Bolsonaro im Jahr 2019 wurden 503 Agrarchemikalien freigegeben. Neuesten Zahlen zufolge gab die Bolsonaro-Regierung im Jahr 2020 weitere 493 Agrotóxicos frei, 2021 waren es demnach bis zum Stichtag 29. September 441. Seit 2019 wurden in Brasilien also insgesamt 1.408 Agrotóxicos genehmigt.

Mitverantwortung von Konzernen?

Erster Adressat bei der Frage nach der deutschen Mitverantwortung für das massenhafte Ausbringen von Agrarchemikalien in Brasilien sind auch zwei deutsche Konzerne im Pestizid-Weltmarkt: Diesbezüglich hatte der Autor im Jahr 2016 eine Untersuchung der in Brasilien zum Verkauf angebotenen Wirkstoffe in Pestiziden durchgeführt.(8) Ziel war es herauszufinden, ob und welche Wirkstoffe deutsche Unternehmen in Brasilien vertreiben, die auf EU-Ebene laut EU-Pesticides-Database(9) nicht zugelassen sind. Diese Untersuchung wurde drei Jahre später wiederholt. Das Ergebnis: Die Zahl der von den beiden deutschen Unternehmen in Brasilien vertriebenen, aber auf EU-Ebene laut EU-Pesticides-Database nicht zugelassenen Wirkstoffe hat von acht (2016) auf 12 (2019)(10), bzw. von neun (2016) auf 13 (2019) zugenommen.(11) Eine neue Untersuchung von Inkota, Misereor und der Rosa-Luxemburg-Stiftung für das Jahr 2020 bestätigte diese Daten.(12)

Solange es in Brasilien nicht verboten ist, werden diese Stoffe dort auch von deutschen Konzernen weiter vertrieben, wie 1988 der damalige Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens, Hermann J. Strenger, einräumte: „In der Tat haben wir zum Beispiel in Brasilien nicht Gesetze wie in der Bundesrepublik.“ Dennoch sah er bei seiner Firma keine Doppelstandards walten, denn er ergänzte: „Aber wir stellen bei unseren Investitionen in Brasilien oder Indien, in den USA oder in Japan die gleichen Anforderungen wie hier.“(13) Über 30 Jahre später verkaufte sein Unternehmen in Brasilien noch immer Herbizide, Insektizide und Fungizide, die in Europa verboten sind. Eine Online-Petition, die fordert, den Verkauf von in der EU verbotenen Pestiziden in alle Welt zu verbieten, erzielte im vergangenen Jahr über 177.000 Unterschriften.(14)

(1) Siehe zusammenfassend https://www.kritischeaktionaere.de/bayer/rede-von-christian-russau-21/
(2) Siehe die Zusammenfassung unter https://www.kritischeaktionaere.de/bayer/rede-von-alan-tygel-2/
(3) Anvisa wählte aus: Ananas, Salat, Knoblauch, Reis, Süsskartoffeln, Rote Bete, Karotte, Chayote, Guave, Orange, Mango, Paprika, Tomate und Weintrauben.
(4) http://portal.anvisa.gov.br/documents/111215/0/Relat%C3%B3rio+%E2%80%93+PARA+2017-2018_Final.pdf/e1d0c988-1e69-4054-9a31-70355109acc9#page=5
(5) https://cevs-admin.rs.gov.br/upload/arquivos/201804/26143402-anexo-xx.pdf#page=16
(6) Siehe zu den Gesundheitsrisiken der Stoffe zusammenfassend unter https://portrasdoalimento.info/2019/04/12/conheca-os-27-agrotoxicos-encontrados-na-agua-que-abastasse-as-cidades-do-brasil/#
(7) Siehe zusammenfassend https://exame.abril.com.br/brasil/1-em-4-municipios-tem-coquetel-com-agrotoxicos-na-agua-consulte-o-seu/
(8) „In der Giftfalle“, in: Christian Russau: Abstauben in Brasilien. Deutsche Konzerne im Zwielicht, online unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Russau_Abstauben_in_Brasilien.pdf#page=196
(9) http://ec.europa.eu/food/plant/pesticides/eu-pesticides-database/public/?event=homepage&language=EN. Einige der Wirkstoffe haben in einigen EU-Mitgliedsstaaten nationale Zulassungen erhalten, siehe zum Beispiel Glufosinat, das auf nationaler Ebene in 21 EU-Staaten zugelassen ist.
(10) https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/bayer-doppelmoral-beim-pestizidverkauf-in-brasilien-hat-zugenommen
(11) https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/basf-doppelmoral-beim-pestizidverkauf-in-brasilien-hat-zugenommen
(12) „Gefährliche Pestizide von BASF und Bayer. Ein globales Geschäft mit Doppelstandards“, März 2020, online unter https://www.rosalux.de/publikation/id/42000
(13) Wir können nicht einfach auf Gift verzichten“, Interview mit Bayer-Chef Hermann J. Strenger, in: Der Spiegel 51/1988, online unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13531711.html
(14) https://www.inkota.de/themen/welternaehrung-landwirtschaft/gefaehrliche-pestizide/giftexporte-stoppen/

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