25. Juni 2020: Karla Lara (Honduras)

„Hier erkranken die Leute an COVID, aber sie sterben an Korruption“

Patricia Rendón und Karla Lara
Patricia Rendón und Karla Lara (Screenshot: Ökubüro)

Patricia Rendón (Ökubüro): Herzlich Willkommen allen, die sich zugeschaltet haben zu diesem besonderen Abend mit der Künstlerin Karla Lara, der Stimme des Widerstandes in Honduras. Seitens des Ökubüros besonderen Dank an Stattpark Olga, hier in München, durch deren technische und menschliche Unterstützung diese Veranstaltung überhaupt erst stattfinden kann. Wir begrüßen sehr herzlich unseren Gast Karla Lara, die heute ihre Stimme, ihre Worte und ihre einzigartige Energie mit uns teilt. Karla, vielen Dank, dass du heute unter diesen sehr speziellen Bedingungen für uns Zeit hast. Wir hätten dich viel lieber live hier, aber auch der virtuelle Kontakt bringt uns näher. Sag mal, wie geht’s dir und von wo aus sprichst du mit uns?

Karla Lara: Ich sitze hier in der Hauptstadt von Honduras. Von hier aus werden die Entscheidungen getroffen, die die Mehrheit der Bevölkerung betreffen. Diese Entscheidungen werden getroffen ohne die Realität und die Bedürfnisse der Menschen zu kennen. Sie werden getroffen, ohne die autonomen Entscheidungen derer zu respektieren, die ihre Gemeingüter und die Natur verteidigen. Ich spreche als politische Dissidentin, als Feministin und als Aktivistin der sozialen Bewegungen. Ich möchte Hoffnung ausdrücken, auch wenn alles sich verschworen hat, uns die Hoffnung zu nehmen.

PR: Karla, lass uns, bevor wir deine Lieder hören und mehr über deine Kämpfe erfahren, über deine Musik sprechen. Die Musik ist ein Mittel, das uns bewegen kann, sie kann Themen ansprechen, die wir sonst nur sehr umständlich erläutern könnten. Und deine Musik ist gespickt mit Botschaften, die unsere ganze Existenz, unsere Seele berühren und uns zum Nachdenken anregen, zu einem kritischen Blick auf die Realitäten, die uns umgeben.

Dein Land Honduras gehört zu den Ländern, in denen wir stark und mutig sein müssen, um zu singen. Ganz besonders als Frauen und als feministische Aktivistinnen. Insofern spiegelt sich die ganze jüngere Geschichte von Honduras in deinen Texten. Deine Lieder verbinden uns mit der Realität und der Geschichte deines Landes. Sie sind mehr als nur Anklage. In einem Interview hast du kürzlich gesagt, dass du niemals auf das Musikmachen verzichten wirst, denn „sie ist ein guter Vorwand um über das zu sprechen, was unterdrückt und zum Schweigen gebracht wird.“ Deshalb meine Frage: Wann in deinem Leben hast du aus der Musik den Ort für deine Kämpfe gemacht. Wann hat die Musik dich ausgewählt?

Karla Lara: “Die Musik hat mich ausgesucht”, weil es bei mir nicht so war, dass ich schon als Kind auf der Bühne stehen wollte. Auch wenn meine Mutter sagte, dass ich immer Aufmerksamkeit haben wollte. Bei mir war es vielmehr so, dass mein musikalischer Weg sich mit dem politischen Engagement entwickelte. Mit 16 wurde ich Mitglied einer außergewöhnlich kreativen Band. Sie machte lateinamerikanische Musik, während Honduras den Kalten Krieg mit Befreiungskämpfen in allen drei Nachbarländern erlebte und selber das traurige Herz der Konterrevolution und des US-Imperiums war, das sich mit Militärbasen und einem enormen Aufgebot an geheimdienstlichen Mitteln bei uns festsetzte. Ich bin dann aus privaten Gründen nach Mexiko gezogen, habe mich dort aber einer Band der Nationalen Befreiungsfront aus El Salvador angeschlossen und mich dort engagiert – eben mit Musik. Als ich 1994 nach Honduras zurückkam, hatte sich meine alte Band aus den 1980ern gerade neu formiert. Das hat mir wieder ein Zugehörigkeitsgefühl gegeben, denn diese Rückkehr war für mich sehr schwer. Ich war gefühlt längst Salvadorianerin geworden, hatte dort Leib und Leben riskiert.

„Eine Sängerin ist die Stimme vieler Stimmen.
Ich bin auf der Bühne nie allein.“

Nach dem Putsch 2009 war mir dann endgültig klar, dass Singen immer etwas organisch Gewachsenes sein muss, dass es aus den Kämpfen kommen muss, dass ich Teil dieser Kämpfe bin und von ihnen Zeugnis ablege. Lieder sind Zeugnisse einer Zeit, die kollektiv konstruiert wird. Eine Sängerin ist die Stimme vieler Stimmen. Sie singen, wenn ich singe. Ich bin auf der Bühne nie alleine. Auch jetzt nicht!

Das Lied “Cuando las palabras” (Wenn die Worte) ist meine Interpretation dessen, was angeblich „Einheit“ ist. Angeblich, denn wir glauben, dass „Einheit“ per Dekret verordnet werden kann. Das stimmt nicht! Das ist eine weiße, westliche Erfindung, die vom wirklichen Ziel ablenkt, nämlich dass wir einen Konsens über eine politische Mindest-Agenda finden müssen, uns für dieses unmittelbare Ziel zusammenschließen und danach wieder das Eigene verfolgen. Aber gut, für diese Mindest-Agenda müssen wir anfangen, lebenswichtige Begriffe greifbar zu machen: „Frauen sind Menschen“, „wirkliche Macht statt Missbrauch“, „Territorium statt Profit“, „Leben statt ,Entwicklung' oder ,Zivilisation'“, „Gemeingüter statt Ressourcen“. Wenn wir dazu eine Übereinkunft finden, dann kann es auch eine politische Minimal-Agenda geben.

PR: Worüber singt Karla Lara? Deine Musik ist nichts für unbedarfte Ohren. Es geht darum, Position zu beziehen gegen Ungerechtigkeit, gegen Unterdrückung. Einige deiner Texte klagen an, andere beschreiben Bedingungen, die nach Veränderung, nach Bewegung rufen. Singen gegen die Korruption, gegen den Neoliberalismus, gegen Landraub und Vertreibung, vor allem indigener Gemeinden. Aber du singst und sprichst auch immer über die Hoffnung der Leute und darüber, die alltägliche machistische Gewalt auszubremsen. Woher kommt deine Kreativität?

Karla Lara: Ich bin den Frauen ähnlich, für die ich singe. Ich arbeite sehr bewusst darauf hin, dass da keine Kluft entsteht, auch wenn das Singen mich in Situationen und auf Bühnen bringt wie diese hier, wo ein virtuelles Auditorium etwas über mich wissen will, über mich als Teil eines Kollektivs. Ich sage also: Ich bin wie viele – heterosexuell (ist ein Witz), weil ich nie gewagt habe, es nicht zu sein. Ich habe vier Kinder, war mehrmals verpartnert, verheiratet, geschieden, getrennt, noch viel öfter verliebt. Die Uni hab ich geschmissen, lebe ich einem Arbeiterviertel. Jetzt bin ich eine “señora”, man nennt mich “Mutter”. So sagen die Männer zu den Frauen, die nicht mehr jung aussehen… Ich gehe gern zu Fuß, bin begeistert vom Markt, mag Busfahren... Glaubt bloß nicht, dass das so ist wie in Deutschland. Ich bin gern in den Gemeinden auf dem Land, gehe gern auf Demos und esse mit den Fingern. Und von all dem aus singe ich. Ich bin sicher, dass es unsere Pflicht ist, die Kluft zu den Künstler*innen, zu denen wir aufsehen, zu beseitigen. Wir müssen dringend verstehen, welche Rolle die Kunst spielt, wenn es um ein gerechteres Leben geht, um Würde, um’s Frausein, damit wir den Platz in der Welt einnehmen, der uns zusteht.

PR: Ist das Lied „Vas a Volver“ (Du wirst zurückkehren), das wir gerade gehört haben, Präsident Zelaya in seinem erzwungenen Exil nach dem Putsch 2009 gewidmet?

Karla Lara: Nein, nein, nein... Nein, es ist eine Hommage an alle, die von einer Regierung nach der anderen aus dem Land getrieben wurden, auch von der von Mel Zelaya. Es ist ein Lied zu Ehren derjenigen, die mutig losgehen – um nichts zu finden, nicht einmal einen Traum. Sie flüchten nur vor dem Albtraum hier. “Van a volver” (Sie werden zurückkehren) ist mit den Karawanen entstanden, in denen sich Tausende auf den Weg machen. Es ist aus dem Schmerz entstanden, zu sehen, wie sich das Land leert, zu sehen, wie sehr die Leute, die massenhaft weggehen, leiden und aus der Überlegung, dass wir etwas tun müssen, damit sie zurückkommen. Denn hier ist ihr Zuhause. Sie müssen nachhause kommen, ihren Fluss, ihre Leute, ihre Gebräuche, ihre Gerüchte wiederentdecken. Sie sollen nicht als Fremde zurückkehren, was sie zurückgelassen haben, soll noch dasein: ihre Geschichten, ihre Spiele, ihre Spaziergänge, ihr Zuhause.

Karla Lara (re) am 8. März 2020 mit Miriam Miranda und Garifuna-Aktivistinnen
Karla Lara (re) am 8. März 2020 mit Miriam Miranda und Garifuna-Aktivistinnen. Quelle: Giorgio Trucchi

PR: Es ist kein Geheimnis, dass Honduras eines der Länder mit den weltweit höchsten Raten an Gewalt und Unterdrückung ist, lebensbedrohlich für Aktivist*innen und Führungspersonen sozialer Bewegungen, mit sehr vielen Morden an Frauen. Du steckst mitten in den sozialen Kämpfen, bist Teil von ihnen, Teil der Kämpfe auch der Landgemeinden und der indigenen Gemeinden die ihre Territorien verteidigen: Wie schaffst du es immer wieder die Angst zu überwinden und Widerstand zu leisten? Wie geht das in einem Land wie Honduras?

Karla Lara: Die Stärke kommt aus der Gemeinschaft, dem Kollektiv, aus dem gemeinsamen Gedächtnis. Daraus, zu spüren, wie schlimm so viel Verelendung ist. Aus der Verpflichtung, die uns diejenigen hinterließen, die uns entrissen wurden. Auch aus der Freude, derart noble, weise, engagierte Leute zu kennen. Sie kommt von den rebellischen Jugendlichen, den Dissident*innen, den Trans*Personen, die ihre Identität leben, auch wenn sie verspottet, verachtet und umgebracht werden. Sie kommt von den Frauen, die offen lesbisch leben und ihre Liebe vor der Verleugnung und den vernichtenden Urteilen dieser Gesellschaft verteidigen. Die Kraft kommt von den lachenden kleinen Mädchen und den steinalten Frauen, die dir das beste Ei schenken, das die Henne heute gelegt hat, als Dank, dass du in ihr Dorf gekommen bist, um für sie zu singen. Sie kommt von den großen Bergen an diesem wunderbaren Ort, den klaren Wassern eines Flusses, dem Kaffeeduft am Morgen. Aus der Schönheit schöpfen wir Kraft. Und es ist hier wirklich schön!

PR: Das Lied “Que corra el río” (Der Fluß möge fließen) ehrt die widerständigen Frauen der Gemeinde Rio Blanco und Berta Cáceres, die Koordinatorin der Organisation COPINH, die in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 wegen ihres Widerstandes gegen das Wasserkraftwerk “Agua Zarca” erschossen wurde. Ein Projekt, an dem europäische Entwicklungsbanken ebenso beteiligt waren wie Voith Hydro. ein Joint-venture von Siemens hier in München. Und ein Verbrechen, dessen Urheber und Auftraggeber bis heute nicht verfolgt werden. Berta ist ein Symbol der Kämpfe und des Widerstandes von indigenen Gemeinschaften, Verteidiger*innen der Territorien, der Natur und der sozialen Kämpfe gleichermaßen. Ganz Lateinamerika ist voll von Bertas. Es gehört untrennbar zu unserer Würde und unserer Selbstbestimmung ihren Namen an- und auszurufen.

Wenn wir von den aktuellen Bedrohungen für das Leben und die Würde der vom System an den Rand gedrängten Menschen sprechen, kommen wir nicht darum herum, auch darüber zu reden, was wir gerade in der COVID-Pandemie erleben. Wobei die Bedrohung nicht nur vom Virus ausgeht, sondern auch davon, wie Regierungen mit der Situation umgehen.

Wir lesen, wie desaströs und korrupt dieser Umgang in Honduras durch das Regime von Präsident Juan Orlando Hernández ist und dass die bereitgestellten Finanzmittel nicht verwendet werden, um die Gesundheitskrise zu bewältigen. In den vergangenen Wochen und Tagen steuerte Honduras auf eine kritische Phase zu, die Zahl der Infizierten, Erkrankten und Toten scheint zu explodieren. Das Gesundheitssystem steht vor dem totalen Kollaps.

Miriam Miranda, die Generalkoordinatorin der afroindigenen geschwisterlichen Schwarzen Organisation von Honduras (OFRANEH) sagte uns kürzlich: "Das Coronavirus fordert uns als menschliche Wesen heraus. Wir erleben gerade etwas, was wir uns als Menschheit, als Generation, nicht vorstellen wollten: Weltweite Pandemien planetarischen Ausmaßes, die sehr viel verändern werden, und zwar ab jetzt.” Wenn in Honduras ein Regime weder die Fähigkeit, noch den Willen hat, auf die COVID19-Krise zu reagieren – wohin führt das? Wie ist gerade die Situation in Stadt und Land? Wie reagieren die sozialen Basisbewegungen, die Gemeinden? Gibt es Beispiele für Alternativen, selbstbestimmtes Handeln?

Karla Lara: Hier erkranken die Leute an COVID, aber sie sterben an Korruption. Sie sterben, weil die Krankenhäuser keine Ausrüstung haben, weil das medizinische Personal keine Schutzkleidung hat, weil es keine Medikamente gibt, auch keine Sauerstoffflaschen.

Wir haben seit dem 13. März Ausnahmezustand. Das heißt, die Verfassungsgarantien sind außer Kraft gesetzt, das öffentliche Leben ist militarisiert. Nicht die medizinischen Profis managen die Krise, sondern Militär, Unternehmer und Politiker. Das medizinische Personal beklagt immer noch, dass sie keine Handschuhe haben, keine sicheren Masken. Oft gibt es auch kein Wasser. In den Stadtvierteln nicht und in den Krankenhäusern auch nicht. Sehr viele Leute sterben an Dengue-Fieber und werden als COVID-Fälle registriert. Sogar bei Unfalltoten passiert das.

„Die Verelendung in der Stadt lässt uns klarer sehen, was
die Intensivierung des herrschenden Modells bedeutet.“

Es wurde eine Riesenkampagne losgetreten, um bei der Bevölkerung die Idee zu verbreiten, dass sie selber an der Ansteckung schuld ist. Dabei stellt der Staat keine Mittel bereit, um die strukturellen Probleme zu lösen, die diese Verletzlichkeit und das Ansteckungsrisiko schaffen. Die so genannten “Solidaritäts-Tüten“ mit Lebensmitteln werden nach politischer Zugehörigkeit verteilt, mit Listen der Regierungspartei. Ein Korruptionsskandal nach dem anderen kommt ans Licht, zum Beispiel nachgewiesener Betrug beim Kauf mobiler Krankenhäuser. Auch die Ansteckung in den überfüllten Gefängnissen ist skandalös. Auf dem Land ist die Lage insofern anders, als die Leute nicht so dicht zusammenwohnen und die Ansteckungsgefahr nicht so groß ist. Die Verelendung in der Stadt lässt uns klarer sehen, was die Intensivierung des herrschenden Modells bedeutet.

In bestimmten Gebieten sind die Leute gut organisiert und es gibt sehr positive Erfahrungen von Tausch, Teilen der Aussaat, auch wissenschaftlich begründete Erfahrungen, wie sie OFRANEH kürzlich über die Wirksamkeit von Naturmedizin gegen COVID19 veröffentlicht hat. Es ist eine sehr schwierige Zeit, die sozialen Bewegungen sind vielerorts paralysiert. Aber es gibt immer wieder auch Beispiele, dass der Widerstand aufrecht erhalten wird. Gegen sie ist die Repression sehr groß, genauso wie gegen die spontanen Proteste. Gleichzeitig geht das wirtschaftliche Modell immer weiter: Die Projekte, die Rohstoffe ausbeuten, sind nicht gestoppt worden. Was auch weitergeht, sind die Anklagen gegen hochrangige Persönlichkeiten aus Honduras wegen Drogenhandels vor einem Gericht in New York. Auch hier gibt es ein demobilisierendes Moment: Die Leute bilden sich ein, die Gerechtigkeit werde von einem US-amerikanischen Gericht nach Honduras kommen.

Video der Veranstaltung: https://www.youtube.com/watch?v=3SNCWL3CogA

Weitere Links:

Karla Lara exklusiv beim Streamkonzert von Konstantin Wecker am 9.Mai 2020 (mit dt. UT): https://www.youtube.com/watch?v=bf2pJQ_N6os

Un compás que acompaña: Online-Konzert mit Karla Lara und José Antonio Velásquez: https://www.youtube.com/channel/UCE5IaIYtXPHqdW0e5q5m9Dw?view_as=subscriber

Nachruf auf José Antonio Velásquez:

https://www.eha-media.de/index.php/karla-jose


Gefördert durch Engagement Global mit Mitteln des


Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global oder des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder.


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