„Wir werden ermordet“: Der Aufschrei der Hoffnungslosen

#SOSColombia

#SOScolombia. Foto: Camilo Montero

Von Danny Carvajal

München, 6. Mai 2021. Die COVID-Pandemie ist gerade in vollem Gange, aber landesweit demonstrieren die Menschen in Massen in Kolumbien auf der Straße. Es gibt etwas, das gefährlicher und tödlicher zu sein scheint als das Corona-Virus: die staatliche Repression. Eine Mischung aus Empörung, Wut und Angst ist der Motor der massiven Demonstrationen in Kolumbien und von Kolumbianer:innen weltweit. Die Gewaltherrschaft in Kolumbien, die in den letzten Tagen wiederholt offensichtlich wurde, ist zur Angelegenheit für die internationale Gemeinschaft geworden. Seit Beginn des landesweiten Generalstreiks am 28.04. gegen eine Steuerreform in Kolumbien sind Mord und Verfolgung die einzige Antwort der Regierung gewesen.

Es werden unbewaffnete, friedliche Demonstrant:innen ermordet, Frauen vergewaltigt, tausende Bürger:innen willkürlich festgenommen und weitere Menschen verschwinden gelassen. Die Zahl der Opfer nimmt ständig zu, aktuelle Zahlen hier oder hier. Es wurden auch ein Polizist ermordert und viele verletzt. In Städten wie Cali, Pasto und Pereira wurde das Internet abgeschaltet und die sozialen Medien erlauben den Benutzer:innen keine Live-Übertragung. Am 30.04. ermutigte der ehemalige Parteivorsitzende und Präsident aber immer noch eigentlicher Führer und Drahtzieher der Regierungspartei, Álvaro Uribe Vélez, sowohl die Polizei als auch die Armee dazu, ihre Waffen gegen die Demonstrant:innen zu richten (seit seinem Regierungsantritt im Jahr 2002 sind offiziell 6402 Bürger:innen außergerichtlich von der Armee hingerichtet worden).

Über 100 Jahren Bürgerkrieg
Es herrscht Gewalt und Unordnung in Kolumbien, was nicht verwunderlich ist in Anbetracht des Bürgerkrieges, der bereits mehr als 100 Jahre andauert. Der Unterschied zu heute ist, dass die Bombardierungen und die Schießerei nicht mehr auf weitentfernten, ländlichen Gebieten stattfinden, sondern auf den Straßen der großen Städte Kolumbiens. Die Rede des Regimes betont die Notwendigkeit und beruft sich auf die „demokratische“ Pflicht der Soldat:innen und Polizist:innen, den „inneren Feind“ zu bekämpfen und damit die sogenannte Drohung des Kommunismus abzuwenden (die „Revolución molecular disipada“). Obwohl es lächerlich klingt, ist der antikommunistische Diskurs heute immer noch die Flagge der rechtsradikalen Partei Kolumbiens Centro Democrático. Heutzutage werden alle Menschen, die anders denken: soziale Anführer:innen, Lehrer:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen usw. als kommunistisch betrachtet und als Feinde bekämpft, verfolgt und ermordet. Wenn es in einem Land keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, keine Versammlungsfreiheit gibt, wenn das Leben keinen Wert mehr hat, wenn die Waffen des Staats gegen das Volk verwendet werden – darf so ein Land noch als „demokratisch“ bezeichnet werden?

Reiches Land - Armes Land. Der Krieg für den Rohstoffe
Kolumbien ist kein armes Land. Wohlbekannt sind u.a. Ressourcen wie Gold, Kaffee, Bananen, Avocados, Kohle und die berühmte illegale Kokain, die täglich nach Deutschland exportiert werden. Wohlbekannt ist leider auch die Zerstörung des Urwaldes im kolumbianischen Amazonas zugunsten der Monokultur in Landwirtschaft, Viehzucht und Bergbau. Wohlbekannt ist auch der bewaffnete Konflikt. Um die Ausbeutung der Ressourcen und die Gewinne zu maximieren, werden seit Jahrzehnten ganze Gemeinden von Campesinos, Indígenas und Afros systematisch vom Staat vertrieben und vernichtet. Daraus sind Selbstverteidigungsgruppen und Guerrillas im Laufe der jüngsten Geschichte Kolumbiens entstanden. Im Bürgerkrieg geht es also in den ländlichen Gebieten darum, die Kontrolle des Territoriums zu erlangen; vor allem dort, wo die meisten wirtschaftlichen Ressourcen ausgebeutet werden können.

Die Gewalt ist zum Alltag geworden und die ideologische Spaltung der Gesellschaft hat sich verschärft, die Ungleichheit erhöht und die Lebensumstände der Verarmten verschlechtert. Laut der UNO gibt es in Kolumbien mehr als 8 Millionen Binnenflüchtlinge und es haben unzählige Morde an Campesinos, Afros und Indígenas stattgefunden. Als Ursache des bewaffneten Widerstands lässt sich auch ein struktureller Rassismus in der kolumbianischen Gesellschaft feststellen, der durch den Ausschluss und die Benachteiligung der indigenen, afrokolumbianische und "Campesino"-Gemeinden sowohl ökonomisch als auch politisch ausgeübt wird.

Die Steuerreform: die Spitze des Eisbergs
Seit Beginn der Pandemie ist die Armut in Kolumbien auf circa 50% gestiegen und die Arbeitslosigkeit betrifft über 40 % der Bevölkerung. Mittlerweile sind die Gewinne der Banken in Milliardenhöhe gestiegen und die Regierung gibt das Budget des Landes für Propaganda und Militärausgaben aus. Um die Kosten der Pandemie zu deckeln wurden die Besteuerung des Einzelhandels und der mittelständischen Unternehmen gefordert, und die Mehrwertsteuer wurde erhöht und auf Grundgüter (Lebensmittel) ausgeweitet. Deswegen wundert die unmittelbare Reaktion der Zivilgesellschaft auf eine beliebige und rücksichtslose Steuerreform nicht, die voller Wut auf die Straße gehen und gegen die korrupte Regierung demonstrieren. Der Hunger und die Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung sind größer und stärker als die Furcht vor der COVID Pandemie. Die heute auf der Straße stehen und der Gewaltherrschaft widerstehen, sind diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben als das bloße und nackte Leben. Sie demonstrieren trotz der Tatsache, dass die Polizei und die Armee mit Gewehren auf sie schießen. Die kolumbianische Zivilgesellschaft ruft dringend zur internationalen Solidarität auf.

#SOSColombia


Danny Carvajal ist in Bogota geboren und hat Philosophie und Pädagogik in Kolumbien studiert. Im Exil ist er als Menschenrechtsaktivist bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen Aluna Minga (München), Unidas por la Paz Alemania (Berlin) und bei dem AK-Kolumbien des ÖkuBüros aktiv. Er ist Doktorand der Hochschule für Philosophie in München.

Zahlreiche Protesten in Deutschland

Zahlreiche Proteste in Deutschland. Foto: Camilo Montero

In #Berlin #Bonn #Hamburg #München #Nürnberg und in vielen anderen Städten gehen Kolumbianer:innen und ihren Freund:innen auf die Straßen

Links mit weiteren Informationen

Ausgewählte Presseartikeln:
Proteste in Kolumbien unaufhaltsam: Verhängung des Ausnahmezustands möglich
37 Tote. Große Demonstrationen am Mittwoch. Brutale Angriffe in Medellín. Internet-Blockaden. Sicherheitskräfte von Neo-Nazi unterrichtet
https://amerika21.de/2021/05/250350/ausnahmezustand-kolumbien-moeglich

Proteste gegen Steuerreform geraten außer Kontrolle
https://www.sueddeutsche.de/politik/kolumbien-proteste-polizeigewalt-1.5286801

Mehr als 370 Vermisste nach Protesten in Kolumbien
https://www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationen-mehr-als-370-vermisste-nach-protesten-in-kolumbien-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210507-99-502412


Aktuelle Zahlen der Opfern:
https://www.temblores.org/grita

https://defenderlalibertad.com

 

Stellungnahme der Bundesregierung
Menschenrechtsbeauftragte Kofler zu den Ereignissen in Kolumbien

https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2458274


Bundesregierung muss staatliche Gewalt in Kolumbien endlich klar verurteilen und Finanzhilfen für sogenannten Friedensprozess stoppen

Heike Hänsel, stv. Vorsitzende Fraktion DIE LINKE im Bundestag
https://www.heike-haensel.de/2021/05/06/bundesregierung-muss-staatliche-gewalt-in-kolumbien-endlich-klar-verurteilen-und-finanzhilfen-fuer-sogenannten-friedensprozess-stoppen/

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