Nicaragua

Länderbericht

Aktivitäten zu Nicaragua 2019

Zu Beginn des Jahres 2019 hatte die Regierung Ortega-Murillo der Partei FSLN im Machtkampf gesiegt. Mit unverminderter Repression hatte sie jegliche Opposition auf der Straße unmöglich gemacht. Die im Februar begonnenen Verhandlungen mit der oppositionellen Alianza Cívica führten zur Freilassung fast aller politischen Gefangenen, aber ein Amnestiegesetz soll dafür sorgen, dass die von den beiden Konfliktparteien begangenen Verbrechen des Jahres 2018 mit hunderten Toten, mit Verschwundenen und Gefolterten für immer straffrei bleiben. Die minimalen politischen Zugeständnisse der Regierung in den Verhandlungen mit der Alianza Cívica sind Folgen des steigenden internationalen Drucks und der Hoffnung der Regierung, damit die wirtschaftliche Krise überwinden zu können.

Im September 2018 hatte die nicaraguanische Polizei begonnen, unangemeldete Demonstrationen für illegal zu erklären.(1) Seither ist eine Opposition auf der Straße praktisch nicht mehr möglich. Kundgebungen werden ausschließlich regierungstreuen Organisationen genehmigt und schon die kleinsten Versuche der Opposition, ohne Genehmigung Kritik an der Regierung zu üben, werden sofort von einem riesigen Polizeiaufgebot und Schlägertrupps unterbunden. Sogar Minidemonstrationen in Einkaufszentren werden umgehend aufgelöst.

So war die Situation in Nicaragua, als am 10. Januar 2019 Rafael Solís, Richter am Obersten Gerichtshof (CSJ), seinen Rücktritt erklärte.(2) Der prominente Sandinist und enge Vertraute von Daniel Ortega, der nach seinem Rücktritt nach Costa Rica ins Exil ging, unterstützte in seinem Rücktrittsschreiben alle Anschuldigungen der Opposition, gab der Regierung die Schuld an der Krise seit dem 18. April 2018, beschuldigte sie des Terrors und erklärte, dass die Gefangenen selbstverständlich politische Gefangene seien und die Gerichte ihnen Verbrechen unterstellen würden, die sie nie begangen hätten. Aber Solís blieb ein Einzelfall, die Regierung steckte ihn in die Schublade Verräter und die Opposition, die auf weitere Rücktritte und so auf den Beginn des Endes der Herrschaft des Paares Ortega-Murillo hoffte, hoffte vergebens.

Die Verhandlungen: ein „nationaler Dialog“ unter Männern

Aus dieser Position der Stärke heraus rief Daniel Ortega für den 27. Februar 2019 zu Verhandlungen auf, um „den Frieden im Land zu festigen“.(3) An dem Verhandlungstisch würden sich Vertreter der Regierung und Unternehmer*innen gegenübersitzen. Vorausgegangen war diesem Aufruf ein Treffen des Präsidenten mit fünf Großunternehmern. Bei diesem Treffen waren auch der Kardinal Brenes und der apostolische Nuntius Sommertag als „Zeugen“ anwesend. Ganz offensichtlich war die Welt für Daniel Ortega wieder in Ordnung. Um die Probleme des Landes müssen sich die richtigen Leute kümmern: er und seine Regierung, die Vertreter der Wirtschaft und die katholische Kirche. Und die Alianza Cívica(4), die Organisation, die sich aus den Protesten des Jahres 2018 heraus gebildet hatte und seither den „nationalen Dialog“ forderte, spielte mit. Sie war zwar wieder wie beim „nationalen Dialog“ des Vorjahres der offizielle Verhandlungspartner der Regierung, aber die Repräsentant*innen waren diesmal ganz andere. Unter den sechs Mitgliedern der Delegation und ihren Stellvertreter*innen befanden sich sechs hohe Vertreter*innen der Wirtschaft, darunter die Präsidenten des Unternehmerverbandes COSEP und der Amerikanisch-Nicaraguanischen Handelskammer AmCham. Weitere Repräsentant*innen waren ein Vertreter einer privaten Universität, ein Student, eine Studentin und José Pallais, ein Jurist, der früher unter dem rechten Präsidenten Arnoldo Alemán ein Regierungsamt innehatte. Dazu kamen noch Carlos Tünnermann mit Azahalea Solís als Stellvertreterin, sie hatten schon in den Verhandlungen des Vorjahrs eine wichtige Rolle gespielt. Also nur zwei Mitglieder der Delegation für den „nationalen Dialog“ mit der Regierung waren Frauen. Und beide waren keine ordentlichen Delegierten, sondern nur Stellvertreterinnen.(5) Die Delegation der Regierung setzte sich nur aus Männern zusammen.

Die Verhandlungen verliefen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sehr zäh und in einem Klima des totalen gegenseitigen Misstrauens. Eine Woche benötigten die beiden Parteien allein, um sich auf den Verhandlungsrahmen (hoja de ruta) zu einigen. Die Alianza Cívica unterbrach mehrmals die Verhandlungen: Einmal, als die katholische Kirche die angebotene Vermittlerrolle ablehnte, nachdem die Regierung den von der Kirche vorgeschlagenen Bischof abgelehnt hatte, und einmal, als eine von der Alianza initiierte Demonstration für die Freilassung aller politischen Gefangenen von der Polizei brutal unterdrückt worden war. Nach drei Wochen, am 20. März, veröffentlichte die Regierung ein Verhandlungskommuniqué, in dem die Verhandlungspartner*innen die Einigung auf die Verhandlungsthemen bekannt gaben.(6) Der wichtigste und konkreteste Punkt war die Ankündigung der Freilassung aller Gefangenen innerhalb von 90 Tagen. Die restlichen Themen waren sehr allgemein gehalten. Aber es waren alle Themen enthalten, über die seit den Demonstrationen im April 2018 im Land diskutiert worden war: Wahlrechtsreform, Garantie der demokratischen Rechte und Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Verbrechen seit April 2018. Dass all diese Themen zu Abkommen führen würden, war aber schon deshalb unwahrscheinlich, weil die beiden Parteien im vereinbarten Verhandlungsrahmen ein Ende der Verhandlungen schon für den 28. März angestrebt hatten. In diesem Zeitrahmen wurden am Ende zwei Abkommen verabschiedet, eine Detailvereinbarung zur angekündigten Freilassung der Gefangenen und ein Abkommen zur „Stärkung der Rechte und Garantien der Bürger”.(7) Dies war der Höhepunkt, aber auch schon das Ende der Verhandlungen. Das erste Abkommen führte zur Freilassung der Gefangenen, auf die sich die Vertragspartner*innen unter Beteiligung des Internationalen Roten Kreuzes geeinigt hatten. Das zweite etwas eigenartige Abkommen, in dem die Regierung den Bürger*innen praktisch nur ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte bestätigte, scheiterte an der Ausführung. Die Alianza Cívica bestand darauf, dass die Umsetzung dieses Abkommens international überwacht werden müsse, die Regierung lehnte dies strikt ab und bestand auf einer nationalen Überwachung durch die von ihr kontrollierte staatliche Menschenrechtskommission. Von da an stagnierten die Verhandlungen und wurden am 19. Juli bei der 40-Jahrfeier der sandinistischen Revolution von Daniel Ortega für beendet erklärt.

Ein Amnestiegesetz, das keine Versöhnung bringen kann

Schon am 27. Februar, kurz vor dem Beginn der Verhandlungen, hatte die Regierung die ersten 100 Gefangenen freigelassen und dies als „Zeichen des guten Willens“ bezeichnet.(8) Es folgten in Abständen weitere Gruppen. Kurz bevor die vereinbarte Frist von 90 Tagen für die Freilassung aller Gefangenen auslief, verabschiedete das Parlament am 8. Juni ein Amnestiegesetz(9), das 53. Amnestiegesetz in der Geschichte Nicaraguas. Das Gesetz ist sehr kurz. In den vier Artikeln wird nur vage der Kreis der Begünstigten definiert – alle Personen, die seit dem 18. April 2018 bis zum Tag des Inkrafttretens des Gesetzes „an den Ereignissen teilgenommen haben“. Dann wird noch ausdrücklich erwähnt, dass auch alle Fälle, die bisher nicht untersucht wurden, unter die Amnestie fallen, mit anderen Worten die Menschenrechtsverletzungen, für die Polizei und Paramilitärs verantwortlich gemacht worden waren und von denen nicht ein einziger Fall untersucht wurde. Ausgenommen von der Amnestie sind nur Fälle, die durch internationale Abkommen geregelt sind, denen Nicaragua beigetreten ist. Praktisch bedeutet das aber: Alle Gewalttaten, einschließlich Morde und Anschläge, für die es schon Urteile mit hohen Haftstrafen gibt, sollen vergessen werden. Zu Gerechtigkeit oder Suche nach der Wahrheit findet man kein Wort in dem Gesetz.

Im Gegensatz dazu hatten internationale Organisationen wie die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) für die Einrichtung einer Justiz plädiert und ihre Unterstützung dabei angeboten.(10) Die Alianza Cívica hatte sich dem angeschlossen. Ein solcher Prozess hätte auch in eine Amnestie gemündet, aber erst nach Beendigung der Arbeit einer allseitig anerkannten Wahrheitskommission. Das wäre ein hoffnungsvoller Versuch gewesen, die tief gespaltene nicaraguanische Gesellschaft zu versöhnen. Die Regierung Ortega-Murillo, die sich selbst als „Regierung der Versöhnung und der nationalen Einheit“ bezeichnet, hat diese Chance zur Versöhnung nicht genutzt.

Unveränderte Repression

Im Gegenteil, die Regierung verlässt sich weiterhin auf das Mittel der Repression. Viele der entlassenen politischen Gefangenen, die anfänglich nur aus dem Gefängnis in den Hausarrest entlassen worden waren, klagten auch nach dem Inkrafttreten des Amnestiegesetzes über Schikanen durch die Polizei und Anhänger der Regierung, bei deren Aktionen die Polizei tatenlos zuschaute. Viel schwerwiegender sind Anschuldigungen von Menschenrechtsorganisationen wie CENIDH, die behaupten, dass es sich bei den Morden in ländlich abgelegenen Gebieten des Nordens um Hinrichtungen an oppositionellen Bauern handele.(11) Bis Mitte des Jahres 2019 zählte CENIDH 25 Fälle, für die CENIDH Polizei und Paramilitärs verantwortlich macht. Detailliert beschrieben werden die Ermordungen von zwei Ex-Contras, die 2018 an tranques in der Region aktiv waren. Da zu der Zeit in der Gegend auch Mitglieder der FSLN ermordet worden sind, drängt sich ein Zusammenhang mit den aktuellen Verbrechen auf.

Zwei extreme Beispiele von Repression ereigneten sich im November 2019. Am 14. November begann eine Gruppe von Frauen in der Kirche San Miguel, Masaya, mit einem Hungerstreik für die Freilassung ihrer Söhne aus dem Gefängnis. Die Kirche wurde sofort von der Polizei abgeriegelt und von der Strom- und Wasserversorgung getrennt. In der Nacht zum 15. November versuchte eine Gruppe von 16 Aktivist*innen der UNAB(12), unter ihnen die schon im Jahr zuvor verhaftete Amaya Coppens, in die Kirche einzudringen. Die Gruppe wurde sofort von der Polizei festgenommen und des illegalen Waffenhandels beschuldigt. Die regierungskritische Zeitung Confidencial überschrieb ihren Bericht dazu mit dem Satz, „Mitglieder der UNAB wurden festgenommen als sie versuchten, Bürger, die in der Kirche eingepfercht waren, mit Lebensmitteln zu versorgen“. Das der Regierung sehr nahe stehende Radio Primerísima veröffentlichte am 18. November einen Artikel mit dem Titel „Banditen zur Strecke gebracht, die töten wollten und Panik verbreiten“.(13) In diesem Beitrag, in dem noch von anderen Polizeiaktionen berichtet wird, heißt es, dass die Polizei in den Autos der Aktivist*innen Waffen und Molotowcocktails gefunden habe. In diesem Fall spricht die Wahrscheinlichkeit sehr für die Version von Confidencial. Die Verhafteten wurden inzwischen zwar wieder freigelassen, ein Prozess gegen sie soll aber noch stattfinden. Die Aktion der UNAB war allem Anschein nach als Provokation geplant, die zur Konfrontation mit der Polizei führen musste. Dass man sich dafür den Kofferraum voll Waffen packt, ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Die Hungerstreikenden beendeten ihre Aktion nach neun Tagen.

Der andere Fall ereignete sich ein paar Tage später in León. Fidel Domínguez, die Hauptperson des Falles, wurde erst im Laufe des Jahres 2019 Polizeipräsident der Stadt. Vielleicht glaubte er, sich bei seinen politischen Gegnern Respekt verschaffen zu müssen. Wie auch immer, am 25. November erschien bei dem bekannten Regierungsgegner Diego Reyes eine Gruppe von Polizisten. Sie fesselten ihn, seine Ehefrau und seinen Sohn an Stühle und Fidel Domínguez zwang sie, Sätze zu wiederholen, in denen sie versprechen mussten, in Zukunft die Polizei und Mitglieder der FSLN nicht mehr zu ärgern. Die Polizei filmte das Ganze und stellte es ins Netz.(14) Von Konsequenzen für Fidel Domínguez ist nichts bekannt.

Einerseits gibt es die beschriebenen Fälle, bei denen die Repression der Polizei offensichtlich ist, andererseits aber auch Hinweise, dass immer noch Gruppen bei ihrem Widerstand gegen die Regierung Gewalt anwenden. Das schlimmste Beispiel ist eine Schießerei zwischen der Polizei und Bewaffneten am 31. November 2019 in Masaya, bei der es fünf Tote gab, zwei davon waren Polizisten. Der Anführer der Bewaffneten war 2018 aktiv bei den tranques in Masaya.(15)

Wachsender internationaler Druck durch Sanktionen

Das bisher geschilderte Geschehen in Nicaragua steht in engem Zusammenhang mit Ereignissen auf internationaler Ebene. Dort wird an verschiedenen Stellen versucht, Druck auf die Regierung Ortega auszuüben. Offiziell geht es darum, eine Verbesserung der Menschenrechtssituation zu bewirken, sicherlich aber auch darum, die nicaraguanische Opposition zu unterstützen. Zum einen beschäftigte sich die OAS mit der Situation in Nicaragua, zum anderen verhängte die Regierung der USA Sanktionen gegen einzelne Personen und inzwischen auch gegen nicaraguanische Unternehmen aus dem Umkreis des Präsidentenpaares. Bis Ende 2019 gab es Sanktionen gegen 16 Personen, gegen drei Mitglieder der Familie Ortega-Murillo und gegen dreizehn Regierungsmitglieder oder enge Vertraute.(16) Darüberhinaus wurden mehrere Unternehmen sanktioniert, die enge Beziehungen zum Präsidentenpaar haben. Die beiden wichtigsten sind die Bank Banco Corporativo (Bancorp) und das Tankstellennetz La Distribuidora Nicaragüense de Petróleos (DNP). Besonders an DNP zeigt sich das Zwiespältige an wirtschaftlichen Sanktionen. Auf der einen Seite sind sie wirksam – ohne Sanktionen wäre Ortega wohl nie an den Verhandlungstisch zurückgekehrt –, auf der anderen Seite können sie die Wirtschaft so stark treffen, dass sie der gesamten Bevölkerung schwer schaden. Dies befürchtet man für die Treibstoffversorgung nach der Sanktionierung von DNP. Die Sanktionen sind Konsequenzen des US-Gesetzes, das unter dem Namen Nica Act bekannt ist.(17) Dieses Gesetz enthält auch die Aufforderung an das US-Finanzministerium, sich dafür einzusetzen, dass Nicaragua bei internationalen Finanzorganisationen keine Kredite mehr bekommt. Das hätte, noch dazu in der aktuellen wirtschaftlichen Lage, erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Nicaragua. Aus diesen Gründen lehnt das Ökumenische Büro Sanktionen, die der Bevölkerung schaden, ab. Das gilt gleichermaßen für die Bestrebungen, Nicaraguas Mitgliedschaft in dem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Zentralamerika auszusetzen.

Die Sanktionen spielten auch eine wichtige Rolle beim Scheitern der Verhandlungen zwischen der Regierung Ortega und der Alianza Cívica. Das Aus kam, als die Regierung der Alianza Cívica mitteilte, dass sie, um die Verhandlungen fortzusetzen, das Ende der Sanktionen verlangen müsse. Als die Alianza sich weigerte, brach Daniel Ortega die Verhandlungen ab. Die Alianza stellte sich auf den Standpunkt, dies sei im Verhandlungsrahmen anders vorgesehen.(18)

Bedeutende Organisationen in Nicaragua, darunter auch der Projektpartner des Ökumenischen Büros, das Movimiento Comunal Nicaragüense, lehnen die Forderung der Opposition nach Sanktionen ab. Die Opposition sei bereit, „die nationale Ökonomie zu zerstören, um politische Ziele zu erreichen, ohne dabei die Auswirkungen auf die Bevölkerung zu berücksichtigen“.(19)

Schrumpfende Wirtschaft, wachsende Armut

Als Folge der Ereignisse des Jahres 2018 steckt die nicaraguanische Wirtschaft in einer schweren Krise. Nach mehreren Jahren mit dem höchsten Wachstum in Zentralamerika von über 4 Prozent ist 2019 das Bruttoinlandsprodukt nach 2018 ein zweites Mal gesunken. Nachdem die Wirtschaft 2018 um 3,5 Prozent geschrumpft war, waren es 2019 sogar 4,5 Prozent. Als Ovidio Reyes, der Präsident der Zentralbank, vor kurzem diese Zahlen bekannt gab, meinte er, das Schlimmste sei damit vorbei.(20) Zu diesem Optimismus passt es aber nicht, dass sich die Zentralbank allem Anschein nach mit Veröffentlichungen zurückhält. Gerade in Bereichen, in denen die Krise die schlimmsten Auswirkungen hatte, wie zum Beispiel Baugewerbe, Tourismus und finanzielle Zusammenarbeit, gibt es bisher für das Jahr 2019 keine Zahlen. Der Ökonom Néstor Avendaño jedenfalls sieht besorgt in die Zukunft und begründet dies mit eindrucksvollen Zahlen zur Lage der Beschäftigung und des privaten Verbrauchs.(21) Wenn die Zahl der Sozialversicherten von 2017 auf 2019 um fast 180.000 zurückgegangen ist, dann bedeutet dies, dass nur noch 19,2 Prozent versichert sind, das heißt über 80 Prozent im informellen Sektor ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Aber auch viele derjenigen, die ihre sozialversicherte Beschäftigung nicht verloren haben, müssen mit weniger auskommen. Denn der Mindestlohn, an dem sich die Lohnabschlüsse orientieren, ist seit September 2018 nicht mehr erhöht worden. Die Lebenshaltungskosten sind jedoch gestiegen. Grund dafür ist eine Steuerreform von Anfang 2019. Außerdem wurden die Beiträge zur Sozial- und Rentenversicherung (INSS) erhöht, so wie dies schon im April 2018 geplant war und damals zu den Protesten mit vielen Toten geführt hatte. Es gibt Spekulationen, dass es Kostensteigerungen bis zu 30 Prozent sein könnten.(22) Das alles bewirkt, dass die Zahl der Armen in Nicaragua gewachsen ist. Von 23,4 Prozent im Jahr 2017 auf 26,6 Prozent im Jahr 2019, das heißt 1,72 Millionen galten im Jahr 2019 als arm.

Die Opposition sucht die Einheit

Die aus den Protesten im April 2018 hervorgegangene Oppositionsbewegung hatte den Traum, dass die Macht des Paares Ortega-Murillo in sich zusammenbrechen würde, schon im Jahr 2018 begraben müssen. Im darauffolgenden Jahr 2019 musste sie einsehen, dass auch vorgezogene Neuwahlen nicht zu erreichen sind. Seither strebt sie eine Wahlrechtsreform an und bereitet sich darauf vor, bei den nächsten Wahlen im Jahr 2021 als Partei anzutreten. Einen Namen dafür hat sie schon – Nationale Koalition –, aber sonst nur eine Menge unbeantworteter Fragen. Dass bei Wahlen nur eine geeinte Opposition eine Chance gegen die FSLN haben wird, leuchtet ein. Dass man auf dem Weg zu einer geeinten nationalen Opposition sich erst einmal trennen muss, ist dagegen kaum zu verstehen. Aus den Protesten des Jahres 2018 waren zwei politische Gruppierungen hervorgegangen. Mit dem nationalen Dialog im Mai 2018 entstand als Verhandlungspartner der Regierung die Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia, aber es existierten auch noch andere oppositionelle Gruppen, die Widerstand gegen die Regierung Ortega leisteten. Im Oktober beschlossen daher alle diese Gruppen sich zu vereinen und eine „gemeinsame Front“ zu bilden, die sie Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) nannten.(23) Jetzt auf dem Weg zur nationalen Einheit ist die Alianza Cívica als erstes aus der UNAB ausgetreten. Sie will ihr Profil schärfen. Es scheint, dass die Opposition auf dem Weg zu einer ganz normalen rechten nicaraguanischen Partei ist, das heißt zu einer politischen Kraft, die sich um die Ambitionen ihrer Führungsschicht kümmert und nicht um das Wohl der Bevölkerung. Solche Parteien gibt es genügend in Nicaragua. Eine weitere dient dem Land in der aktuellen schwierigen Situation bestimmt nicht, und die FSLN müsste sie auch bei Wahlen nicht fürchten.

Zur Einschätzung der nicaraguanischen Opposition gehört auch der Fall Álvaro Leiva von ANPDH. Die aus den USA heraus finanziell unterstützte Menschenrechtsorganisation ANPDH war nach dem April 2018 dadurch aufgefallen, dass sie immer die höchsten Zahlen an Toten, Verletzten und Verhafteten publizierte. Im August 2018 war ihr Direktor Álvaro Leiva nach Costa Rica ins Exil gegangen und hatte dort eine neue Organisation aufgebaut.(24) Im Juni 2019 wurde bekannt, dass die weiterhin in Nicaragua existierende ANPDH schwere Vorwürfe gegen Álvaro Leiva erhob. Es ging um die Veruntreuung von fast einer halben Million Dollar, Unterschriftsfälschungen und, was am schlimmsten ist, um falsche Zahlen bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Gemeint sind damit wohl überhöhte Opferzahlen, um die Geldgeber*innen zufriedenzustellen. Auch dieser Fall zeigt, dass es in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft wie Nicaragua immer sehr schwer ist, die Interessen hinter den Emotionen zu erkennen. Das wirft wieder einmal die Frage auf, wie unabhängig NGOs und Medien noch sind, wenn sie finanziell von externen Geldgeber*innen abhängen. Sicher ist dabei nur, dass wenn eine Gesellschaft so tief gespalten ist wie Nicaragua im Augenblick, die internationale Gemeinschaft besonders sorgfältig und genau hinschauen sollte, wenn sie wirklich daran interessiert ist, zu verstehen, was dort geschieht.

Wir werden die Entwicklungen in Nicaragua weiter – nicht ohne Sorge – intensiv verfolgen.


(1) https://www.dw.com/es/la-policía-de-nicaragua-declara-ilegales-las-protestas/a-45685088
(2) https://www.elnuevodiario.com.ni/nacionales/483132-rafael-solis-renuncia-corte-suprema-justicia/
(3) https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:87633-comandante-daniel-ortega-negociacion-para-consolidar-la-paz-con-justicia-y-dignidad
(4) Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia, Zivile Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie https://www.alianzacivicanicaragua.com/
(5) https://www.laprensa.com.ni/2019/02/22/politica/2526864-quienes-son-los-representantes-de-la-alianza-civica-en-el-dialogo-nacional
(6) https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:88470-septimo-comunicado-de-la-mesa-de-negociacion-por-el-entendimiento-y-la-paz-en-nicaragua
(7) https://www.alianzacivicanicaragua.com/acuerdo-para-la-facilitacion-del-proceso-de-liberacion-de-personas-privadas-de-libertad-de-conformidad-al-ordenamiento-juridico-del-pais-y-las-respectivas-obligaciones-internacionales-de-nicaragua-en/ und https://www.alianzacivicanicaragua.com/acuerdo-para-fortalecer-los-derechos-y-garantias-ciudadanas/
(8) https://www.envio.org.ni/articulo/5622
(9) Ley Nº. 996 Ley de Amnistía http://digesto.asamblea.gob.ni/consultas/util/pdf.php?type=rdd&rdd=C8yB9pvT%2BIU%3D
(10) https://www.oas.org/es/cidh/prensa/comunicados/2019/160A.pdf
(11) https://www.cenidh.org/media/documents/docfile/INFORME_CENIDH_julio_agosto.pdf
(12) Unidad Nacional Azul y Blanco, Bürgerallianz Blau-Weiß https://www.unidadnacionalni.com/
Mehr zur UNAB in diesem Kapitel im Abschnitt „Die Opposition sucht die Einheit
(13) https://confidencial.com.ni/regimen-asedia-arresta-y-corta-servicios-en-iglesia-san-miguel-arcangel/ und http://www.radiolaprimerisima.com/noticias/general/273373/caen-pistoleros-que-querian-matar-y-sembrar-panico/
(14) “No podes andar jodiendo a los militantes sandinistas” https://www.youtube.com/watch?v=OoqPfkbn-h4
(15) https://www.laprensa.com.ni/2019/12/01/nacionales/2616937-policia-orteguista-y-parapoliciales-de-la-dictadura-sitian-masaya
(16) https://www.univision.com/noticias/america-latina/payo-ortega-operador-financiero-e-hijo-mayor-de-daniel-ortega-sancionado-por-estados-unidos
(17) https://www.congress.gov/bill/115th-congress/house-bill/1918
(18) Dort steht: „Zu gegebener Zeit und in gegenseitigem Einverständnis werden die Verhandlungspartner einen Appell an die internationale Gemeinschaft richten, die Sanktionen aufzuheben ...“ Link siehe Fußnote 6
(19) http://www.mcnicaraguense.org/principales-ejes-de-trabajo/defensa-de-la-economia-familiar/740-sectores-sociales-se-pronuncian-ante-crisis-social-y-politica
(20) https://www.laprensa.com.ni/2020/01/23/economia/2632731-ovidio-reyes-presidente-del-bcn-cree-que-lo-peor-de-la-recesion-y-el-desempleo-ya-paso-en-nicaragua
(21) https://nestoravendano.wordpress.com/2019/12/22/2020-mas-problemas-y-preocupaciones/
(22) https://confidencial.com.ni/el-golpe-final-de-la-reforma-tributaria/
(23) https://confidencial.com.ni/nace-la-unidad-nacional-azul-y-blanco/
(24) https://kaosenlared.net/nicaragua-alvaro-leiva-la-anpdh-y-el-destape-de-las-mentiras/ und https://confidencial.com.ni/anpdh-ensenanzas-de-la-controversia/

Aktivitäten zu Nicaragua 2019

31. Januar, EineWeltHaus: Krise in Nicaragua: Regime-Change abgewehrt oder Demokratiebewegung blutig unterdrückt?

Bei der Veranstaltung gingen wir der Frage nach, inwiefern der am 18. April in Nicaragua ausgebrochene gewalttätige Konflikt einen von den USA aus gesteuerten Umsturzversuch darstellte oder es sich um die gewalttätige Unterdrückung einer Demokratiebewegung handelt. Der eingeladene Referent Matthias Schindler aus Hamburg wies auf strukturelle Ursachen der Krise hin, wie mangelnde demokratische Freiheiten und den Pakt der Regierung Ortega mit Teilen des Unternehmertums sowie der katholischen Kirche. Unser Nicaragua-Referent hingegen zeigte, dass die führenden Organisationen in der Protestbewegung durchaus bedeutende finanzielle und politische Unterstützung vonseiten der USA erhalten und innerhalb der politischen Führung der Opposition Vertreter*innen der Rechten sowie der traditionellen Oligarchie eine wichtige Rolle spielen.

19. März, Daneben, Gaby Baca : La Baca Loca y lxs chocoitxs - Vortrag und Musik aus Nicaragua

Angesichts der sozialen und politischen Krise in Nicaragua berichtete die Musikerin Gaby Vaca vor und während ihres Konzertes über die aktuelle Situation in Nicaragua. Einen Schwerpunkt legte sie dabei auf die feministische Perspektive. Hugo Quiroz ging darüber hinaus auf die Situation junger Menschen in seiner Heimatstadt Masaya ein.

Dienstreise nach Nicaragua

Im April bereiste unser Nicaragua-Referent das Land. Er besuchte verschiedene Städte und Gemeinden unserer Partnerorganisation, um ein Bild von der Lage und dem Konflikt in Nicaragua aus erster Hand zu gewinnen. Allgemein stellt sich die Situation vor Ort als eine hochkomplexe Realität dar, in der es sehr schwierig erscheint, die „Guten“ und die „Bösen“ eindeutig auszumachen. Wie so oft sind es allerdings die ärmeren Teile der Bevölkerung, die am meisten unter der Krise und dem Machtkampf zweier konkurrierender politischer Blöcke zu leiden haben. Auf Basis der vor Ort getätigten Recherchen veröffentlichte unser Büro einen Beitrag für das Nachrichtenportal Amerika21, der bundesweit viel Resonanz fand(1). Die „Eindrücke aus Nicaragua“ sind auch auf unserer Website zu finden.(2)

Bundestagsabgeordnete treffen sich mit Vertreter*innen des Movimiento Comunal Nicaragüense

Im Rahmen unseres Engagements im Runden Tisch Zentralamerika für Menschenrechte vermittelten wir einen Besuch von deutschen Bundestagsabgeordneten bei unserer Partnerorganisation, dem Movimiento Comunal Nicaragüense in Leon. Ziel des Treffens war, den Politiker*innen einen Eindruck der Perspektive der ländlichen Gemeinden in Nicaragua auf die dortige soziale, ökonomische und politische Situation zu vermitteln.

12. - 31. Oktober: Referent*innenrundreise: Klimawandel: Ursachen und Lösungsansätze in El Salvador und Nicaragua. Entwicklung jenseits von Wachstum und Weltmarkt

Der Bericht zu unserer Referent*innenrundreise: Klimawandel: Ursachen und Lösungsansätze in El Salvador und Nicaragua. Entwicklung jenseits von Wachstum und Weltmarkt mit Janett Castillo aus Nicaragua (MCN-Region Matagalpa) und José Guevara aus El Salvador (MOVIAC / ACUDESBAL – Region Bajo Lempa) findet sich im Kapitel Klima, Unternehmen und Menschenrechte dieses Jahresberichts.

Durch Spenden geförderte Projekte

Auch 2019 konnten wir durch eingenommenne Spenden Aktivitäten des Movimiento Comunal Nicaragüense (MCN) unterstützen.

CULTURA DE PAZ Y PREVENCION DE LA VIOLENCIA – Kultur des Friedens und Gewaltprävention

Das Projekt soll zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit beitragen. Es findet in zehn Stadtteilen und Gemeinden im Landkreis San Ramón statt. Dabei wurden im vergangenen Jahr Workshops zur Sensibilisierung von Jugendlichen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Gewalt durchgeführt sowie Treffen von Selbsthilfegruppen junger Mütter. Darüber hinaus wurde im Rahmen des Projektes psychologische Betreuung für Jugendliche angeboten und die Zusammenarbeit mit den zuständigen staatlichen Stellen für Gesundheit und Bildung ausgebaut.

Der finanzielle Rahmen des Projektes bewegt sich um die 10.000€.

Stärkung des MCN / Matagalpa

Zu Jahresbeginn konnten wir Initiativen zur Stärkung der Organisation des MCN-Matagalpa unterstützen. Teil des Projektes waren Treffen von Vertreter*innen der verschiedenen Landkreise, von Frauen und Jugendlichen. Das Projekt wurde mit Spenden und Eigenmitteln des Büros unterstützt und hatte einen Umfang von circa 1.000€.

Projekt ökologische Landwirtschaft und Anpassung an den Klimawandel

Mit den im Rahmen des Projektes Klimasolidarität eingenommenen Spenden unterstützten wir Aktivitäten des Klimanetzwerkes in Esquipulas und San Dionisio. Durch die Förderung wurden neue Messgeräte zur Klimaaufzeichnung beschafft. Weiterhin wurden zwei Netzwerktreffen, der Druck eines Klima-Bulletins sowie eine Informationskampagne im Radio über den Klimawandel finanziert. Das Projekt hatte einen
Umfang von circa 850€.

 

 


(1) https://amerika21.de/analyse/226237/eindruecke-aus-nicaragua-reisebericht
(2) https://www.oeku-buero.de/nachricht-502/eindrücke-aus-nicaragua.html

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