Mexiko

Länderbericht

Aktivitäten zu Mexiko 2019

Das erste Jahr des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) war voller Hoffnung. Die Beliebtheit des Präsidenten bei der Mehrheit der Mexikaner*innen spiegelt sich in den Meinungsumfragen wider. Sein Umgang mit Themen wie Korruption wird vom Großteil der Bevölkerung positiv wahrgenommen. Allerdings existiert auch eine Ungewissheit, wie viel die Regierung AMLOs in den nächsten fünf Jahren erreichen kann.

Themen zur Unsicherheit und Verbesserung der Nationalökonomie und zur Menschenrechtslage Mexikos sind umstritten. Viele Fragen bleiben offen und die Antworten widersprechen sich. Für die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen sind Licht- und Schattenseiten bei der mexikanischen Regierung zu erkennen, erfuhr unsere Mexiko-Referentin auf ihren Dienstreisen nach Mexiko von unseren Partnerorganisationen vor Ort.

Befriedung oder Militarisierung?

Im März 2019 gründete AMLO die mexikanische Nationalgarde, mit 45.000 Menschen zusammengesetzt aus Streitkräften und föderaler Polizei. Die neue Institution solle „den Frieden und die Ruhe der Menschen in Mexiko“(1) gewährleisten. Trotz dieser Absicht erreichten die Mordzahlen 2019 ein neues, trauriges Rekordhoch von 35.000 Toten. In den Zeitungen war jeden Tag über Ermordungen von Frauen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Umweltaktivist*innen und Vertreter*innen von bäuerlichen, sozialen und indigenen Bewegungen zu lesen. All diese Menschen wurden umgebracht, ohne dass es zu einer einzigen Strafverfolgung kam. In den meisten Fällen wurde überhaupt nicht ermittelt und nicht versucht, die Schuldigen zu finden. Laut dem Bericht der World Front Line Defenders(2) liegt Mexiko mit 24 von 304 Fällen nach Kolumbien, den Philippinen und Honduras an vierter Stelle weltweit bei Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen. Die große Mehrheit davon, 16 dieser Morde, richtete sich gegen Verteidiger*innen der Umwelt und des Territoriums in Mexiko; ein wichtiges und markantes Detail, wenn man die geplanten Großprojekte der mexikanischen Regierung betrachtet.

Die kontinuierlich gestiegene Gewalt zeigt sich in den offiziellen Zahlen von Verschwundenen. In Mexiko gelten mehr als 40.000 Menschen als verschwunden, und seit 2006, dem Anfang des Drogenkriegs, wurden mehr als 2.000 illegale Massengräber entdeckt.(3) Auch der weltweit bekannte Fall von Ayotzinapa bleibt ungeklärt. Seit 2014 sind 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa, Guerrero, scheinbar spurlos verschwunden. Im Jahr 2018 ordnete AMLO die Gründung einer Wahrheitskommission zu Ayotzinapa an. Bis jetzt hat die Kommission die bisherigen Ermittlungen nicht bearbeitet. Währenddessen wurden 70 von 143 verdächtigten Gefangenen freigelassen. Sie könnten wesentliche Informationen über den Verbleib der Studenten haben.(4) Es bleibt noch die Hoffnung, dass die interdisziplinäre, unabhängige Expert*innenkommission (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes, GIEI) wieder eingesetzt wird, und endlich ihre Empfehlungen zu diesem Fall umgesetzt werden können.

Die Präsenz der Nationalgarde in Mexiko sollte die Gebiete befrieden, in denen die organisierte Kriminalität am stärksten tätig ist. Dennoch zeigte das Militär und die Regierung, dass ihre Leistung sehr begrenzt sind. Am 17. Oktober gab es den Versuch, Ovidio Guzmán, Sohn des Drogenbosses Joaquín „El Chapo“ Guzmán und Kopf des Sinaloa-Kartells, festzunehmen. Das Militär nahm Ovidio Guzmán zwar in Haft, aber die direkte und brutale, fast kriegerische Reaktion des Sinaloa-Kartells in der Stad Culiacán erzielte seine Freilassung nur wenige Stunden später. Viele Mexikaner*innen empfanden diese Entscheidung, als ob die Regierung der Macht des Kartells nachgab. Andere wiederum nahmen sie als vernünftig wahr. Wer für diese Fehlleistung des Militärs verantwortlich ist, ist immer noch unklar.

Am stärksten engagiert sich die Nationalgarde im Süden Mexikos, insbesondere im Bundesstaat Chiapas. Allerdings trifft sie so auf die Migrationsströme und Widerstände. Hier ist die Anwesenheit der Nationalgarde problematisch, vor allem für die Migrant*innen, die indigene Bevölkerung und die Dörfer, die in den letzten Jahren gegen Großprojekte gekämpft haben oder die von den Zapatistas(5) unterstützt werden.(6) Es ist nicht klar, ob die Nationalgarde hier eher Schutz oder eher Kontrolle ausüben will.

Mauer, Migrant*innen und Mexiko

Migration ist ein zentrales Thema in der internationalen Politik zwischen den USA und Mexiko. Die Grenzmauer von US-Präsident Donald Trump wurde noch nicht einmal gebaut, schon hat sich der Fokus in all den Debatten von der Grenze im Norden viel weiter in den Süden verschoben, zur Grenze zwischen Mexiko und Guatemala/Belize. Trump drohte Mexiko mit hohen Strafzöllen, sollten sie die Migrationsströme nicht stoppen, woraufhin die mexikanische Regierung reagierte und zugunsten der USA die Nationalgarde an der Südgrenze einsetzte. Die Kontrolle zur Einreise nach Mexiko wurde dort für die Migrant*innen restriktiver. Die ursprünglich humanitäre Migrationspolitik Mexikos, in der die Migrant*innen problemlos im Land reisen konnten, ist nicht mehr gültig. Nur die Menschen mit laufendem Asylantrag für die USA dürfen von Mexiko wieder aufgenommen werden und im Land bleiben, bis ihre Formalien geregelt werden; was Monate oder sogar Jahre dauern könnte. Eine inakzeptable Vereinbarung zwischen USA und Mexiko, da das Zielland für die Menschen verantwortlich sein sollte, die in ihrem Land einen Asylantrag einreichen! Auch ist es unverständlich, warum Mexiko bereit ist, die Zahl der humanitären Visa zu verringern. Armut und Gewalt zwingen Menschen aus Zentralamerika immer noch dazu, aus ihrem Heimatland zu fliehen.(7)

Das Recht auf Einwanderung muss gewährleistet werden. Man muss die Fluchtursachen in den jeweiligen Ländern bekämpfen, anstatt die Migrant*innen zu bestrafen.Auch den Verteidiger*innen der Migrant*innen fällt ihre Arbeit schwer. Ein Beispiel: Die Herberge für Migrant*innen La 72 in Tenosique im Bundesstaat Tabasco sah sich Drohungen und Einschüchterungen seitens der organisierten Kriminalität ausgesetzt, nachdem sie Strafanzeige wegen Entführungen von Migrant*innen gestellt hatte. Auch bekannte Aktivist*innen, die die Migrant*innenkarawanen betreuten, wurden verhaftet und wegen Menschenhandel angeklagt.

Früher war Mexiko ein Transitland. Jetzt ist es ein mögliches Zielland, wenn man nicht deportiert, entführt oder ermordet wird. Die geforderte Rolle als sicheres Drittland kann Mexiko nicht gewährleisten.

Auf der einen Seite lässt sich AMLO von Trump unter Druck setzen, um die Migrationspolitik USA-affin zu planen. Auf der anderen Seite bietet die mexikanische Regierung Evo Morales nach dem Putsch in Bolivien Asyl an und erkennt die neue Verwaltung des bolivianischen Staates nicht an. So oder so bleibt es unklar, welche Rolle Mexiko auf dem amerikanischen Kontinent tatsächlich spielen will.

Licht und Schatten

Viele Jahren lang haben die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen vorherige, informierte und freie Konsultationen für die indigenen Gemeinden gefordert, wenn Großprojekte in ihren Gebieten geplant waren. Jetzt werden auch Bürger*innen bei öffentlichen Projekten befragt. Ein Beispiel dafür ist der Bau des neuen, internationalen Flughafens von Mexiko-Stadt, der nach einer Volksabstimmung bei etwa 20 Prozent Baufortschritt gestoppt wurde. Auch andere Projekte des Energiesektors wurden nicht weitergeführt, aufgrund von AMLOs Sparpolitik. Diese Entscheidungen stoppten das ökonomische Wachstum des Landes, sendeten aber einige positive Signale für die Konsultationen anderer Projekte.

Das Touristenprojekt Tren Maya (Maya-Zug) auf der Halbinsel Yucatán widerspricht dennoch AMLOs Umfragepolitik. Im Dezember 2019 führten Anhänger*innen der Regierungspartei Morena die Umfrage für die Zustimmung oder Ablehnung des Projektes seitens der indigenen Gemeinden durch. Auf der Halbinsel Campeche, Quintana Roo und Yucatán, sowie in Tabasco und Chiapas stimmte die Mehrheit der indigenen Bevölkerung für das Projekt. Dieses Ergebnis wird allerdings kritisch betrachtet. Laut dem UN-Büro des Hochkommissariats für Menschenrechte entsprach der Prozess der Umfrage nicht den internationalen Leitlinien (vorher, frei, informiert und kulturell angemessen). Die vorgelegten Informationen für die Umfrage bezogen sich nur auf den potenziellen Nutzen des Projekts und nicht auf die negativen Auswirkungen, die es verursachen könnte. Die Definition, wen, wo und wann man konsultieren soll, wurde einseitig von den Behörden festgelegt. Auch zeigte sich das UN-Büro besonders besorgt über die geringe Beteiligung und Repräsentation indigener Frauen an diesem Prozess, trotz der Bemühungen vor Ort, ihre Einbeziehung sicherzustellen.(8) Kritische Stimmen argumentieren, dass der Maya-Zug weder neu ist, noch ein Zug, noch ein Maya-Zug. Das Projekt umfasst zwei private und geopolitisch günstige Großprojekte, die im Isthmus von Tehuantepec und auf der Halbinsel Yucatán, von der Pazifik- bis zur Karibikküste, umgesetzt werden. Wenn diese Projekte realisiert werden, werden vor allem die Maya und andere dortige indigene Bevölkerungen aus ihren Gebieten verdrängt, durch induzierte oder zwangsweise Enteignung von Ejido-Land (eine Art von Allmende) oder kommunalem Land.(9) Durch mangelhafte Umfragen ein Projekt zu bewilligen, ist eine perverse Form der Legitimation.

Ein anderes Großprojekt ist das Proyecto Integral Morelos (PIM) der mexikanischen Energiekommission (CFE, Comisión Federal de Electricidad). Das Projekt umfasst eine Gaspipeline und zwei thermoelektrische Kraftwerke in den Bundesstaaten Morelos, Tlaxcala und Puebla und ist seit 2012 im Bau. Europäische Unternehmen, wie Abengoa, Elecnor und Enagas aus Spanien und Bonatti aus Italien, sind in das Projekt involviert. Seit Beginn der Umsetzung des Projektes leisten die Bewohner*innen der Gemeinden Widerstand. Expert*innen wiesen auf die Gefahr von enormen Umweltschäden aufgrund seismischer und vulkanischer Risiken hin. Zu den erwarteten ökologischen Auswirkungen in der Region zählen: der Verlust der Biodiversität infolge der Umweltverschmutzung durch die zentralen Wärmekraftwerke, gesundheitliche Schäden der Bevölkerung sowie die Verkalkung und die verminderte Aufnahmefähigkeit des Erdreichs aufgrund der verwendeten Chemikalien.

Die Betroffenen des Projektes organisierten sich, blockierten die Arbeiten des Kraftwerks in Huexca und klagten gegen das PIM, weil sie nicht vorab zum Projekt befragt wurden. Der erste Mord aufgrund des Widerstandes gegen das Projekt ist schon geschehen. Der indigene Aktivist Samir Flores der Widerstandsfront Frente en Defensa del Agua, la Tierra y el Aire (FDATA) wurde hingerichtet. Sein Mord steht laut der lokalen Bevölkerung in direktem Zusammenhang mit seinem Aktivismus und wurde bis jetzt noch nicht aufgeklärt.(10)

Für unsere Arbeit ist es wichtig, diese Licht- und Schattenseiten zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Der Einsatz von sozialen Projekten seitens der mexikanischen Regierung sollte uns nicht blenden und uns von den notwendigen strukturellen Veränderungen ablenken.

Deswegen ist es sehr wichtig, wie schon Jan Jarab, der ehemalige Vertreter des UN-Büros des Hochkommissariats für Menschenrechte in Mexiko, betonte,(11) weiterhin den Familienangehörigen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen zuzuhören, mit engagierten Journalist*innen und Aktivist*innen, mit Wissenschaftler*innen und Akademiker*innen, die ihre Dienste der Gesellschaft widmen, zusammenzuarbeiten, und natürlich den Kampf der Frauen weiter zu unterstützen.

Wie das Nationale Netzwerk von Menschenrechtsverteidiger*innen in Mexiko (Red Nacional de defensoras de derechos humanos en México) sagt, sind die Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen diejenigen, die die Räume des Widerstands zugunsten des Lebens schaffen, da sie die „patriarchalischen und frauenfeindlichen Orte in Frage stellen, die den Tod vor allem von Frauen hervorrufen“.(12) Es ist notwendig, Strategien zu entwickeln, die die verschiedenen Kämpfe für Gleichberechtigung, Multikulturalismus bis hin zum Gemeinwohl umfassen, gegen die strukturelle, politische und körperliche Gewalt in Mexiko.


(1) Hier ist die offizielle Webseite der Nationalgarde abrufbar: https://www.gob.mx/guardianacional/
(2) Global Analysis. Front Line Defenders. https://www.frontlinedefenders.org/es/resource-publication/global-analysis-2019/
(3) A dónde llevan a los desaparecidos. https://adondevanlosdesaparecidos.org/2018/11/12/2-mil-fosas-en-mexico/
(4) Leticia Hillenbrand. Fall Ayotzinapa in Mexiko: CIDH für Wiedereinsetzung der Expertenkommission. https://amerika21.de/2019/12/235670/cidh-ayotzinapa-giei/
(5) Als Zapatistas beziehungsweise Zapatisten werden überwiegend sozialrevolutionäre indigene politische Gruppierungen im Süden Mexikos, vor allem im Bundesstaat Chiapas, bezeichnet.
(6) Militarisierung in Chiapas von Alexej Steinberg. https://jungle.world/artikel/2019/31/militarisierung-chiapas/
(7) „Volltreffer mit der Migrationskeule“. Von Wolf-Dieter Vogel. Zeitung taz. http://www.taz.de/Kommentar-USA-und-Mexiko/!5601487/
(8) ONU-DH: el proceso de consulta indígena sobre el Tren Maya no ha cumplido con todos los estándares internacionales de derechos humanos en la materia. https://www.hchr.org.mx/index.php?option=com_k2&view=item&id=1359:onu-dh-el-proceso-de-consulta-indigena-sobre-el-tren-maya-no-ha-cumplido-con-todos-los-estandares-internacionales-de-derechos-humanos-en-la-materia
(9) Tren Maya: la consulta y el despojo. Carlos Fazio. https://www.jornada.com.mx/2019/12/16/opinion/016a1pol
(10) Mexiko: Mord an indigenem Aktivisten kurz vor Abstimmung über Kraftwerk. Von Philipp Gerber. https://amerika21.de/2019/02/222612/mexiko-mord-soberanes-amlo
(11) Desaparición de personas y el México del futuro. Von Jan Jarab. https://www.eluniversal.com.mx/opinion/jan-jarab/desaparicion-de-personas-y-el-mexico-del-futuro
(12) En 11 meses asesinaron en el país a 5 defensoras de derechos humanos. La Jornada. https://www.jornada.com.mx/2019/12/10/politica/012n2pol

Aktivitäten zu Mexiko 2019

Dank der Zusammenarbeit unserer Partnerorganisationen aus Mexiko und Deutschland konnten wir dieses Jahr vielfältige Veranstaltungen mit besonderen Gästen durchführen. Rundreisen, Tagungen, eine Tournee und Abendveranstaltungen gewannen wir neues Publikum. Der Erfolg unserer Aktivitäten bestätigte sich mit mehr Einladungen für das Jahr 2020. Hier ein kurzer Überblick über unsere organisierten und durchgeführten Arbeiten des Jahres 2019.

Hoffnung für die Menschenrechte in Mexiko? Erwartungen an die neue Regierung López Obrador

Wir begannen das Jahr mit der Tagung in Berlin zum Thema Mexiko. Für den 28. und 29. März 2019 luden wir sieben mexikanische Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen nach Deutschland ein, um sich zusammen mit deutschen Entscheidungsträger*innen und Interessent*innen in den Räumlichkeiten der Heinrich-Böll-Stiftung auszutauschen und zu diskutieren. Fragen der Tagung und der Foren waren: Inwieweit wurde die Regierung unter López Obrador nach den ersten 120 Tagen im Amt der Erwartung von Reformen und strukturellem Wandel gerecht? Welches Schutzkonzept gibt es für die besonders gefährdeten Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen? Welche Maßnahmen werden gegen Straflosigkeit und Korruption ergriffen? Und wie reagiert die Deutsche Bundesregierung auf die neue Machtkonstellation in Mexiko?

Um diese Fragen zu beantworten, führten wir verschiedene Podiumsdiskussion sowie Foren durch. Unsere Mexiko-Referentin organisierte und moderierte zusammen mit einer Referentin von pbi (peace brigades international) das Forum zu Frauen- und LGBTI*-Rechten. Hier diskutierten wir unter andere über die mögliche Bekämpfung der strukturellen Ursachen von Gewalt, Diskriminierung und Stigmatisierung von Frauen und LGBT*-Menschen und deren Schutz durch die mexikanische Regierung. Außerdem sprachen wir über die Rolle der zivilgesellschaftlichen Netzwerke für den Schutz und die Selbstfürsorge von Menschenrechtsverteidiger*innen.

Unsere mexikanischen Referent*innen waren Santiago Aguirre, Vizedirektor Centro de Derechos Humanos, Miguel Agustín, Pro Juárez (Centro ProDH); Balbina Flores, Vertreterin von Reporter ohne Grenzen (ROG) in Mexiko; Isela González, Direktorin Alianza Sierra Madre A.C. (ASMAC) Chihuahua; Schwester Letty Gutiérrez, Scalabrinianas Misión para Migrantes y Refugiados (SMR), sección México; Lucía Lagunes, Direktorin Comunicación e Información de la Mujer (CIMAC) und Iván Tagle, Direktor Transformando tu Vida, A.C. (YAAJ). Leider sagte Yésica Sánchez, Iniciativa Mesoamericana de Mujeres Defensoras de Derechos Humanos (IM-Defensoras), kurzfristig ihre Teilnahme ab.

Die Tagung und das gesamte Programm organisierten die Heinrich-Böll-Stiftung, Reporter ohne Grenzen und die 15 Mitgliedsorganisationen der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko.(13)

Feministische Ansätze aus Mexiko für die Gender-Gerechtigkeit

Anschließend an unsere Mexiko-Tagung war Lucía Lagunes, Direktorin der mexikanischen feministischen Presseagentur CIMAC (Kommunikation und Information der Frau) am 30. März zu Gast in München. Mithilfe von drei von Cimac produzierten Videos zeigte uns Lucía Lagunes mehrere Fälle von Ungerechtigkeit und Straflosigkeit, in denen Frauen aus verschiedenen Teilen Mexikos, die in Notwehr gehandelt hatten, nun kriminalisiert werden und Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis erhielten. Die Video-Serie „Vom Opfer zur Täterin, Frauen und Selbstverteidigung“ (De víctimas a victimarias, mujeres en defensa propia) ist eine Zusammenstellung verschiedener Berichte und Radiosendungen. Viele der Frauen, die auf den Videos zu sehen sind, waren in einer lebensbedrohlichen Situation und hatten in Notwehr gehandelt. Die Männer wurden verletzt oder sogar getötet. Wenn die Frauen sich nicht selbst geschützt hätten, wären sie getötet worden. Aber da sie die Aggressoren verletzten, sind sie nun als Mörderinnen angeklagt. Lucía Lagunes Beitrag stellte andere Perspektiven von Gewalt sowie juristischer und systematischer Gewalt gegen Frauen in Mexiko dar.

Wir bedanken uns sehr bei Lucía Lagunes für ihren Vortrag, vor allem, da sie kurzfristig eingesprungen war. Ursprünglich hatten wir die Veranstaltung mit Yésica Sánchez, Juristin und Leiterin der Organisation Consorcio Oaxaca geplant. Da sie für den Vorsitz der bundesstaatlichen Menschenrechtskommission von Oaxaca kandidierte, konnte sie nicht nach München kommen. Lucía Lagunes Analyse war eine gute Ergänzung des geplanten Themas: Wir sprachen nicht nur über die extreme Gewalt gegen Frauen, den Feminizid, sondern auch über andere Formen der Kriminalisierung von Frauen, die in Notwehr handeln.

Die Veranstaltung wurde von uns in Kooperation mit Pacta Servanda e.V. und dem Projekt Abriendo Puertas (VIA Bayern e.V.) organisiert.

Theatertournee von Telón de Arena

Dieses Jahr freuten wir uns sehr, unsere Partner*innen aus Ciudad Juárez, Mexiko zum vierten Mal nach Deutschland einladen zu können. Die Theatergruppe Telón de Arena führte ihr Theaterstück A la Orilla del Río (Am Ufer des Flusses) vom 11. bis zum 26. Mai 2019 in München (Premiere), Berlin, Hamburg, Bremen und Bielefeld auf.

Über 400 Personen besuchten die Vorstellungen der Tournee von Telón de Arena, die in Zusammenarbeit mit unseren Kolleg*innen aus den fünf Städten durchgeführt wurde: compagnie Nik und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen des Öku-Büros in München; pbi Regionalgruppe in Berlin; CASA-Gruppe von Amnesty International in Hamburg; Kunst und Kulturverein Spedition e.V. in Bremen; Mexikogruppe im Welthaus Bielefeld, Korima, ASTA der Uni Bielefeld und FH Bielefeld. Die gesamte Tournee wurde vom Öku-Büro mit finanzieller Unterstützung vom Katholischen Fonds und dem Kulturreferat München organisiert.

A la Orilla del Río handelt von familiärem Schicksal und Zerrissenheit durch die Flucht. Durch die humanitäre Aktion #HugsNotWalls (Umarmungen statt Mauern) der NGO Border Network for Human Rights(14) haben die Familien die Möglichkeit, sich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA zu treffen. Die Begegnung zwischen den Familien darf nur drei Minuten dauern und stellt für viele Personen die einzige Gelegenheit dar, ihre Verwandten ohne die Gefahr der Abschiebung treffen zu können.

Mit dem Stück „A la Orilla del Río“ erzählt uns die mexikanische Theatergruppe, was die Menschen aus Mexiko und Mittelamerika in den USA erleben. Durch die Aufführung des Theaterstücks teilten sie die Erfahrungen der Migration, was es uns ermöglicht, uns in andere hineinzuversetzen, unseren Blick auf Migration zu erweitern und so Vorurteile gegenüber Menschen, die in unsere Länder einwandern, zu vermeiden. Das Theaterstück wurde auf Spanisch mit deutschen Übertiteln aufgeführt.

A la Orilla del Río ist ein Stück von Perla de la Rosa. Es spielten Guadalupe Balderrama, Gisela González, Perla de la Rosa, Claudia Rivera, Joan Buitrón, Mario Vera, Humberto Leal und Rubén Ríos.

Telón de Arena begeisterte das deutsche Publikum in den zurückliegenden Jahren bereits mit den Stücken Justicia Negada, Enemigo und Antígona. Über das Theaterstück und die Situation der Migrant*innen in den USA sprach Perla de la Rosa mit dem Öku-Büro in einem Interview: „Die Menschheit braucht stets lange, um die Niedertracht einzugestehen“.(15)

Für 2020 ist eine Tournee von Telón de Arena durch Deutschland und Österreich geplant.

Politische Gefangene in Mexiko und das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Mexiko

Ende Dezember 2018 freuten wir uns sehr über die Freilassung von Enrique Guerrero und Damián Gallardo. Beide waren im Mai 2013 willkürlich inhaftiert und ohne Urteil fünf Jahre festgehalten worden. Ihre Fälle wurden von der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen (UNO) für willkürliche Inhaftierungen beobachtet und die in ihrer Stellungnahme die sofortige Freilassung beider Menschenrechtsverteidiger forderte. Seit 2016 begleitet das Öku-Büro beide Fälle. In März 2017 besuchte unsere Mexiko-Referentin die beiden in dem Hochsicherheitsgefängnis CEFERESO Nº. 2 in Puente Grande, Jalisco, Mexiko.

Im Juni und November 2019 konnten wir die freigelassenen, politischen Gefangenen in Deutschland begrüßen. Sie erzählten uns über ihren Kampf für die Menschenrechte vor, während und nach ihrer Festnahme.

In Mexiko Lehrer zu sein bedeutet oftmals auch, ein politischer und sozialer Aktivist zu sein. Der indigene Lehrer, Menschenrechtsverteidiger, Maler und Dichter Damián Gallardo, Mitglied der Volksversammlung der Völker von Oaxaca (APPO), verteidigt das Recht auf Bildung der indigenen Gemeinschaften der Mixes und Zapoteken. Damián Gallardo Martínez sprach am 11. Juni mit uns in München über die Herausforderungen für den Zugang zu Bildung und die Menschenrechtssituation in Oaxaca. Er stellte seine Bildungsprojekte in den indigenen Gemeinschaften Chinanteca, Zapoteca und Ayuuk der Sierra Norte von Oaxaca vor.

Außerdem las er Gedichte aus seinem im Gefängnis entstandenen Gedichtband „Fragmentos de un espejo oculto“ (Fragmente eines versteckten Spiegels). Wir hatten sein Buch in München vorgestellt, als er noch im Gefängnis war. Deswegen war es umso schöner, seinen Text nun in seiner Anwesenheit und in seiner eigenen Stimme zu hören.

Damián Gallardo besuchte im Sommer andere europäische Städte. Er lernte viele seiner internationalen Unterstützer*innen kennen und verstärkte durch seinen Besuch die globalen Netzwerke. In Deutschland reiste er nach Hamburg, Freiburg, Berlin, München, Köln, Düsseldorf, Stuttgart. In Europa besuchte Damián Gallardo Spanien, Belgien, Italien, Frankreich, Irland, und die Schweiz. In Genf stellte er seinen Fall vor dem Komitee gegen Folter der UNO (Committee Against Torture, CAT) vor. Er klagte gegen den mexikanischen Staat wegen Folter und Menschenrechtsverletzungen, die er seit seiner Festnahme erlitten hat. Zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Consorcio Oaxaca forderte Damián Gallardo, dass der mexikanische Staat seine Verantwortung dafür anerkennt, die Verantwortlichen anzuklagen und ihnen den Prozess zu machen, sowie dem Menschenrechtsverteidiger Wiedergutmachung zu gewährleisten.

Zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung studierte Enrique Guerrero Philosophie an der UNAM und engagierte sich als Gründungsmitglied des Kollektivs Liquidámbar für die Förderung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Rechte in verschiedenen sozialen Bewegungen. Das Kollektiv Liquidámbar wurde nach seiner Festnahme kriminalisiert. Einige Mitglieder traten aus und andere gründeten das Kollektiv Enrique Guerrero.

Im November 2019 reisten Enrique Guerrero und Lenica Morales, Gründungsmitglieder des Kollektivs Liquidámbar und des Kollektivs Enrique Guerrero, durch Deutschland. Sie besuchten Bremen, Hamburg, Köln, Freiburg, München und Berlin sowie London. Am 22. November sprachen Lenica Morales und Enrique Guerrero in München über die Kriminalisierung der studentischen Bewegung in Mexiko und über die weiteren Projekte ihres Kollektivs. Enrique Guerrero beschrieb die Workshops, die sie Menschenrechtsverteidiger*innen und Interessent*innen anbieten: Selbstverteidigung, Selbstfürsorge, Kunst & Theater, Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Begleitung von Opfern. Lenica Morales schilderte zwei Fälle, die ihr Kollektiv begleitet: 1) den Fall der Studentin Lucía Baltazar, politische Gefangene aus Guerrero, die im Jahr 2015 willkürlich festgenommen wurde und als Schleuserin von Migrant*innen angeklagt ist; 2) den Fall von Arantepacua, einer indigenen Gemeinde in Michoacán, die im Jahr 2017 von der staatlichen und föderalen Polizei sowie von der Armee mit vier illegalen Hinrichtungen und 38 Schwerverletzten massiv unter Druck gesetzt wurde. Von Deutschland aus führten Enrique Guerrero und Lenica Morales mithilfe von Videos, Briefen und Bildern solidarische Aktionen für die beiden Fälle durch. Enrique Guerrero sprach über seinen Fall in der Zeitung taz.(16)

Was dem Philosophiestudenten Enrique Guerrero und dem indigenen Lehrer Damián Gallardo widerfuhr, sind leider keine Einzelfälle in Mexiko. Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen, Journalist*innen sowie Aktivist*innen werden kriminalisiert und in ihrer Arbeit behindert, indem sie willkürlich inhaftiert, Tathergänge erfunden und Geständnisse unter Folter erzwungen werden.

Der Waldschützer und politische Gefangene

Einmal im Jahr reist unsere Mexiko-Referentin nach Mexiko, um sich mit den Partnerorganisationen vor Ort zu treffen und zusammen die zukünftigen gemeinsamen Aktivitäten zu planen. Eine ihrer besuchten Stationen war Oaxaca.

Am 26. Juli 2019 besuchte unsere Mexiko-Referentin den Menschenrechtsverteidiger Pablo López Alavez im Zentrum für Resozialisierung Nr. 2 (CERESO) in Etla, Oaxaca. Pablo López ist seit neun Jahren unrechtmäßig in diesem Gefängnis inhaftiert. Der indigene Zapoteke und Menschenrechtsverteidiger wurde am 15. August 2010 in der Nähe des Río Virgen in seiner Gemeinde San Isidro Aloapam, Oaxaca willkürlich und gewaltsam festgenommen. Seitdem ist er aufgrund falscher Mordanklagen inhaftiert.

Als Vertreter seiner Gemeinde klagte Pablo López die illegale Abholzung des Waldes an und forderte den Erhalt des Waldes. Seine Inhaftierung veranschaulicht die Kriminalisierung als Folge der legitimen Verteidigung von Land und Territorium in Mexiko. Im Juni 2017 wurde sein Fall von der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für willkürliche Inhaftierung aufgegriffen, die in ihrer Stellungnahme 23/2017 die Inhaftierung als willkürlich bezeichnete und seine sofortige Freilassung und Behebung des Schadens forderte. Im November 2018 wurde jedoch seine Verurteilung zu 30 Jahren Haft bestätigt. Der Fall ist von Unregelmäßigkeiten geprägt, die von den Vereinten Nationen und anderen Menschenrechtsorganisationen erkannt und aufgelistet wurden. Die Forderung nach Gerechtigkeit wird bis heute aufrechterhalten.

Nach dem Besuch unserer Referentin in Mexiko waren Yolanda Pérez Cruz, die Frau von Pablo López Alavez und Fátima Ojeda von der feministischen Menschenrechtsorganisation Consorcio in Europa. Zusammen besuchten sie im September 2019 mehrere europäische Städte. Im EU-Parlament und bei Veranstaltungen informierten sie über Pablo López Alavez‘ Situation und forderten seine Freilassung. In Berlin trafen wir die beiden Menschenrechtsverteidigerinnen. Als Teil der internationalen Kampagne für die Freilassung von Pablo López veröffentlichten wir einige Interviews(17) und eine Radiosendung auf Deutsch(18) und auf Spanisch(19) und starteten eine Postkartenaktion. Die Postkarte finden Sie diesem Jahresbericht beigefügt und wir bitten Sie, diese zu unterschreiben.

Feminizide in Lateinamerika

Auch unsere Expertise zu Mexiko wird für vielfältige Veranstaltungen nachgefragt. Am 07. Dezember fand in den Räumen der Münchner Kammerspiele mit der mexikanischen Autorin Fernanda Melchor und der Aktivistin Penelope Kemekenidou (Gender Equality Media e.V.) eine Lesung und Diskussion zum Thema „Gewalt gegen Frauen und struktureller Sexismus in Lateinamerika und Deutschland“ statt, die von unserem ehemaligen Mexiko-Referenten Daniel Tapia begleitet wurde

 

 

 

 


(13) Einen Bericht der Tagung sowie Interviews der mexikanischen Referent*innen kann man unter https://www.mexiko-koordination.de/tagung-menschenrechte-mexiko-2019/ abrufen.
(14) Border Network for Human Rights http://bnhr.org/
(15) Das Interview kann man unter https://www.oeku-buero.de/telon-de-arena/articles/die-menschheit-braucht-stets-lange-um-die-niedertracht-einzugestehen.html abrufen.
(16) Den Artikel „Wir müssen das Land verändern“ kann man unter https://taz.de/Aktivist-ueber-seine-Haft-in-Mexiko/!5642220/ lesen.
(17) Pablo López Alavez: Vom Waldschützer zum politischen Gefangenen: https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/vom-waldschuetzer-zum-politischen-gefangenen-freiheit-fuer-pablo-lopez-alavez/, und der Fall Pablo López Alavez: Seit 9 Jahren im Gefängnis wegen der Verteidigung des Waldes: https://www.oeku-buero.de/nachricht/der-fall-pablo-l%C3%B3pez-alavez.html
(18) Freiheit für Umweltschützer Pablo López Alavez! https://www.npla.de/thema/umwelt-wirtschaft/freiheit-fuer-inhaftierten-umweltschuetzer-pablo-lopez-alavez/
(19) De defensor del bosque a preso político. Libertad para Pablo López Alavez!: https://www.npla.de/thema/umwelt-wirtschaft/de-defensor-del-bosque-a-preso-politico-libertad-inmediata-ya-para-pablo-lopez-alavez/

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