Reportage über den Alltag von Maquila-Arbeiterinnen in El Salvador

Über die Runden kommen

Von Maria Rosery,Christliche Initiative Romero, und Carlos Montana

"Ihr könnt kommen, wann ihr wollt. Wir sind die ganze Woche in Zwangsurlaub." Marisa, Reina und Rosa erwarten uns an einer Tankstelle. Nach all den offiziellen Gesprächen in Ministerien, mit Partei- und Gewerkschaftsvertretern sowie organisierten Frauengruppen, die wir im Rahmen unserer 'Maquila-Delegation' geführt haben, haben jetzt Maquila-Arbeiterinnen das Wort. Sie steigen ins Taxi und sagen dem Fahrer, wo die Reise hingeht. Rein nach Soyapango, ein 'Arme-Leute'-Viertel von San Salvador. Unsere KollegInnen vom Ökumenischen Büro, München, von der Infostelle El Salvador, Bonn und von der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bayern besuchen derweil einen salvadorianischen Wirtschaftsverband.

Es ist Mittagszeit - eine ruhige Zeit. Direkt an der Straße, die ins Wohngebiet führt, steht die größte Limoschleuder El Salvadors, eine Coca-Cola-Fabrik. Die Reklamesprüche der braunen Brause muten hier noch absurder an als in unserer Wohlstandswelt. Hier leben überdurchschnittlich viele Arbeitslose und Unterbeschäftigte. Müllabfuhr gibt's nur in den Nobelvierteln, in Soyapango landet der Müll auf der Straße. An einem Maschenzaun baumelt ein Schild: "Se vende este terreno." Das Grundstück wird zum Verkauf angeboten.

Marisa öffnet eine Tür im Zaun. Das gartenähnliche Grundstück zieht sich einen Hang hinauf. Mangobäume und Bananenstauden spenden Schatten und in dieser Jahreszeit saure Mangos. Inmitten der wilden Idylle stehen aus Stein gebaute Hütten mit Wellblechdächern. Marisas Haus ist spärlich möbliert und gut organisiert. Ein Vorhang teilt Schlaf- und Wohnbereich. Der Raum hat einen aus Erde gestampften Boden. Noch ist er trocken, noch hat die Regenzeit nicht begonnen. In einem Käfig ohne Untergestell sitzt ein grüner Papagei auf der Stange und ignoriert uns geflissentlich. Vor der Hütte stehen einige wacklige Stühle. Wir setzen uns.

Studieren - ein unerfüllbarer Traum

Marisa lebt hier mit Sohn, Mann und Eltern. Sie ist 28, aber man könnte die zierliche Person mit der leicht piepsigen Stimme auch für 18 halten. Seit acht Jahren näht sie nun schon in einer Maquila. Eigentlich wollte sie weiter zur Schule gehen. "Aber das Geld reichte nicht, und so fing ich mit 16 an zu arbeiten." Dennoch blieb sie bei den Büchern. "Ich mußte nachts lernen. So schaffte ich zwar mein Abitur, aber mein Wunsch, studieren zu können und weiterzukommen ist immer noch unerfüllt. Wir müssen erst mal über die Runden kommen. Ich würde es gerne zu mehr bringen. Im Moment bestimmt die Arbeit in der Maquila mein ganzes Leben."

Neben ihr sitzt Rosa. Sie wollte Lehrerin werden. Doch auch sie läßt ihre "ganze Kraft in der Fabrik. Als meine Eltern starben, konnte ich nicht weiter zur Schule gehen. Ich mußte meine Familie unterstützen. Wir waren neun Geschwister, und der Jüngste war gerade drei Jahre alt. Ich mußte für alle arbeiten."

Auch Reina, die Dritte der Runde, hatte keine Alternative zur Maquila. Seit neun Jahren versorgt sie sich und ihre zwei Töchter durch die Näharbeit. Rückblickend erscheinen ihr die ersten Jahre vergleichsweise harmlos: "Doch seit zwei Jahren, seit wir den neuen Chef haben, werden wir wie Sklaven behandelt. Jetzt haben wir Aufseher, die unglaublich skrupellos sind. Wann immer sie können, üben sie psychologischen Druck auf uns aus. Sie wollen ein gebeugtes und demütiges Personal."

Jeder Tag ein Alptraum

Auf dem kleinen Vorplatz vor der Hütte, inmitten der wuchernden Pflanzenwelt drängen die Erzählungen der Frauen die idyllische Atmosphäre mehr und mehr beiseite. Unter flirrendem Sonnenlicht nimmt der ausbeuterische Fabrikalltag Konturen an: schwitzende Maquila-Frauen sitzen an Nähmaschinen und inhalieren Mottenpulver, das den schweren Wollstoffen entweicht. Die Luft unter dem Wellblechdach steht, das Thermometer zeigt 50 Grad. Aufseher gehen zwischen den Nähplätzen auf und ab. Es sind die gackernden Hühner, die uns immer wieder aus dem Alptraum herausreißen.

Die zierliche Marisa ist empört, ihre Stimme skandiert: "Die neue Leitung fordert uns immer mehr ab. Wir müssen für das gleiche - wenige - Geld immer mehr leisten. Die minderjährigen Mädchen lassen sie Tag und Nacht und fast jeden Samstag und Sonntag arbeiten. Sonntags bekommen sie Tabletten, so daß sie bis zur Nacht aushalten. Diese Mädchen können sich an keine offizielle Stelle wenden, weil sie offiziell gar nicht arbeiten dürften."

Reina ergänzt:" Wir alle werden richtig ausgepreßt. Diejenigen von uns, die schon lange in der Fabrik arbeiten, werden immer wieder mit unbezahltem Zwangsurlaub belegt. Uns sagen sie, daß nicht genügend Rohmaterial vorhanden ist. In Wirklichkeit werden die Aufträge in anderen Fabrikhallen erledigt. Dort zahlen sie den Näherinnen nicht einmal den Mindestlohn und lassen sie für vier bis fünf Mark Tag und Nacht arbeiten. Das paßt ihnen natürlich besser. Mit dem neuen Verwalter zu reden ist fast unmöglich. Selbst ein Gesprächstermin nutzt wenig. Dann läuft er durch die Fabrik und bleibt nicht stehen: 'Wenn Sie was zu sagen haben, sagen Sie's doch jetzt.' Und wir müssen wie kleine Hündchen hinter ihm herlaufen."

Wir wollen wissen, warum Marisa, Reina und Rosa in Zwangsurlaub geschickt wurden und wann sie die Arbeit wieder aufnehmen dürfen. Im Industriegebiet "Parque Industrial Almacenes de Desarrollo" führt eine schnurgerade Straße zu unserem Ziel, der "Final Pasaje No. 2". Es ist Spätnachmittag. Das ganze Industriegebiet wirkt verlassen. Ein mächtiges Eisengitter grenzt das Grundstück zur Straße hin ab, links von einem kleinen Hof erhebt sich eine große Halle. Meist sind die Betreiber dieser Industriegebiete ehemalige salvadorianische Militärs, die die Hallen an ausländische Investoren vermieten.

Rosa und Reina haben uns zu ihrer Arbeitsstelle gebracht. Während wir vor dem Tor stehen, verbergen sie sich in einer Seitenstraße. "Selbst mit Überstunden ist es für uns nicht einfach, jeden Tag das nötige Essen kaufen zu können", hatte Rosa vorhin im Interview gesagt. Die Fabrik, vor der wir jetzt stehen, ist für die Frauen eine tägliche Quälerei. Rosa: "Immer wieder erniedrigen sie uns und prellen uns um unseren Lohn. Sie wissen: Wenn heute eine von uns aufhört, stehen morgen vier vor der Tür." Trotzdem hofft sie, daß das Tor für sie wieder aufgeht.

Billiger geht's nimmer

Wir können durch das offene Hallentor blicken und vereinzelt Frauen erkennen. Als wir laut rufen, erscheint ein Aufseher. Unter einem Vorwand erreichen wir ein Gespräch mit dem Personalchef von Confecciones Internacionales. Miguel Angel thront hinter einem blankpolierten Schreibtisch und demonstriert Sachlichkeit und Stärke. Noch hallt uns die Stimme von Reina nach, als sie vorhin erzählte: "Es gibt Arbeiterinnen, die eine sehr gute Beziehung zu ihm haben. Doch so tief werden wir nicht sinken. Uns geht es nur darum, unsere Arbeit in Würde machen zu können und mit niemandem dafür schlafen zu müssen." Doch jetzt geht es darum, dem deutschen Besuch eine Geschäftsbeziehung schmackhaft zu machen. Weltgewandt erläutert er sein wichtigstes Argument: "You won't get it cheaper." Billiger geht's nimmer. Warum so wenige Arbeiterinnen in der Halle seien? " Wir haben seit vier Wochen Osterferien, ab Dienstag geht's weiter." Es sei Zufall, daß wir heute überhaupt jemanden angetroffen haben. Ob gegebenenfalls nachts gearbeitet werden könne? Aber nein. Für kurzfristige Aufträge können Reservemaschinen und Reservepersonal herangezogen werden. "Wir arbeiten nur tagsüber, die normalen acht Stunden. Alles läuft gesetzeskonform." Aha.

Der deutsche Besuch möchte natürlich noch die Fertigungshallen besichtigen. Der Chef führt uns persönlich durch die Hallen. 150 Frauen arbeiten hier normalerweise. Stolz zeigt er uns die fertige Ware. Sweatshirts und Blusen mit dem US-amerikanischen Label "Nataly" hängen an Ständern. Alles geht direkt in die USA. "Bis jetzt. Wir können uns natürlich auch vorstellen, nach Deutschland oder ganz Europa zu liefern. Die Stückpreise werden vom Tageskurs bestimmt."

Als wir die Frauen wiedertreffen, sind diese völlig aufgeregt. Sie befürchteten, uns sei etwas zugestoßen. "Wir sind diesem ekligen Kerl immer völlig ausgeliefert, und bei euch mimt er den Gentleman", empört sich Rosa. "Aber was sollen wir machen? Wegen der vielen Zwangsurlaube und der Löhne waren wir sogar beim Arbeitsministerium. Ohne Erfolg." Trotz alledem wollen die drei Frauen sich aber nicht ins Bockshorn jagen lassen. Am Dienstag werden sie wieder draußen vor der Tür stehen - und auf Einlass drängen.

Juli´96

 

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